26 Lehren aus der COP26-Klimakonferenz
1,6 Milliarden Menschen weltweit leben in Großstädten, die regelmäßig von Hitzewellen geplagt werden; über 800 Millionen in Gebieten, in denen Hochwassergefahr aufgrund des ansteigenden Meeresspiegels besteht.
Die dringende Notwendigkeit, die Klimakrise abzuwenden, bevor es zu spät ist, brachte Staats- und Regierungschefs aus aller Welt jüngst auf der UN-Klimakonferenz COP26 in Glasgow zusammen. Die Konferenz ging mit weitreichenden Beschlüssen zur Begrenzung der Erderhitzung durch eine Energiewende zu Ende, auf die sich die Vertretenden aller 197 teilnehmenden Staaten einigten.
Über die Verpflichtung zur Kohlenstoffneutralität hinaus kündigten Entscheidungstragende aus Politik und Wirtschaft auch ambitiöse Pläne u. a. zur Reduzierung der Methanemissionen, zur Wiederaufforstung entwaldeter Flächen sowie zum Ausstieg aus der Kohleenergie an.
Für die Führungskräfte und Branchenexperten, mit denen Autodesk über die umfassenden Nachhaltigkeitsversprechen aus dem öffentlichen wie privaten Sektor gesprochen hat, steht eins fest: Architektur-, Ingenieur-, Bau- und Fertigungswesen stehen vor substantiellen Veränderungen.
Einige der Erkenntnisse, die wir aus der COP26-Konferenz insgesamt und insbesondere aus dem Sustainable Innovation Forum für die mittel- und langfristige Strategieplanung mitgenommen haben, werden im Folgenden vorgestellt.
Die Herausforderung: Nachhaltigkeit als betriebswirtschaftlicher Imperativ für die Baubranche
1. Knapp 40 % aller Treibhausgasemissionen gehen auf das Konto der gebauten Umwelt – eine Zahl, die einerseits Anlass zur Sorge gibt, andererseits aber auch eine Chance bedeutet, wie David Philp, Director of Digital Consulting, Strategy and Innovation bei AECOM Europe, betont. Für ihn lautet die Frage: „Wollen wir die Bremse oder das Gaspedal auf dem Weg in Richtung mehr Resilienz sein?“
2. Bis 2050 wird der Anteil der weltweiten Kohlenstoffemissionen, der beim Bau von Gebäuden und Infrastruktur entsteht, auf 30 % ansteigen. Die Klimabelastung durch den Betrieb der Bauten ist dabei noch nicht mitgerechnet. „Die graue Energiebilanz der Bauwirtschaft ist also ein wichtiger Faktor, der unbedingt berücksichtigt werden muss“, meint David Benjamin, Director of AEC Industry Futures bei Autodesk.
3. Wenn wir keine entsprechenden Gegenmaßnahmen ergreifen, wird sich das Treibhausgasproblem der Baubranche weiter verschlimmern: Expertenschätzungen zufolge ist bis 2060 mit einer Verdopplung des weltweiten Gebäudebestands zu rechnen. „Das heißt, [wir werden] im Laufe der nächsten 40 Jahre genauso viel bauen wie im gesamten bisherigen Verlauf der Weltgeschichte“, verdeutlicht Victoria Burrows, Director of Advancing Net Zero beim World Green Building Council. „Dabei wird zum einen eine riesige Menge an Baustoffen und Prozessen anfallen. Zum anderen ergibt sich daraus aber auch die Notwendigkeit, die Probleme mit unserem bisherigen Baubestand in Angriff zu nehmen, denn viele dieser Gebäude werden ja 2050 immer noch stehen.“
4. Einer Studie der Immobilienberatung Colliers zufolge werden sich die Kosten für die energetische Sanierung des aktuellen Baubestands innerhalb Europas bis 2050 auf sieben Billionen Euro belaufen. Laut Andres Guzman, Head of Sustainability bei Colliers, entfallen davon umgerechnet allein 600 Milliarden auf den COP26-Gastgeber Großbritannien.
5. Der Bedarf an kohlenstoffarmer Energie wird sich vervierfachen, glaubt Simone Rossi, CEO von EDF Energy. Aktuell mache kohlenstoffarme Energie etwa die Hälfte unseres Stromverbrauchs aus. „In Zukunft wird der Stromverbrauch nicht nur steigen, sondern muss auch zu 100 % aus kohlenstoffarmen Quellen bezogen werden. Das ist eine massive Herausforderung“, meint Rossi.
6. All diesen Problemen zum Trotz ist die Umstellung auf nachhaltiges Wirtschaften längst alternativlos. Victoria Burrows vom World Green Building Council spricht hier von einem „betriebswirtschaftlichen Imperativ“: „Wer heute Objekte betreibt, die nicht zukunftsfähig sind, setzt sein Unternehmen einem Risiko aus.“
7. Anstatt abzuwarten, bis die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen geschaffen sind, können diese Veränderungen sofort in Angriff genommen werden. Dazu ist Zusammenarbeit erforderlich, so Jose La Loggia, der bei Trane Technologies die Sparte Commercial HVAC leitet. „Wir müssen selbst die Initiative ergreifen. Alles Weitere – neue Gesetze, Normen oder technologische Innovationen – kann sich aus der konstruktiven Zusammenarbeit heraus ergeben“, ist er überzeugt.
8. „Viele der Technologien, die zur Lösung der aktuellen Probleme beitragen können, kommen im Ingenieur- und Bauwesen sowieso längst zum Einsatz“, glaubt auch Mike Haigh, CEO von Mott MacDonald. Seiner Meinung nach besteht die Herausforderung darin, das Potenzial der vorhandenen Kompetenzen und Tools tatsächlich auszuschöpfen. Insbesondere beim Thema Dekarbonisierung komme es auf eine enge Zusammenarbeit zwischen Eigentümern, Gebäudebetreibenden, Planenden und Bauunternehmen an. „Leider sind unsere herkömmlichen Arbeitsverfahren oft so angelegt, dass künstliche Barrieren zwischen diesen unterschiedlichen Gruppen errichtet werden, obwohl ihnen die Bewältigung der Klimakrise eigentlich allen ein dringendes Anliegen ist."
Die Chancen: Wie Unternehmen die Umstellung sofort in Angriff nehmen können
9. Die ersten Schritte zur Umstellung auf nachhaltige Geschäftspraktiken sind mit geringeren Kosten verbunden, als oft angenommen wird. „RMI hat vor Kurzem im Rahmen einer Studie die Möglichkeiten und Kosten der Reduzierung der Kohlenstoffemissionen aus grauer Energie für drei unterschiedliche Gebäudetypen quantifiziert“, berichtet Katie Ross, die bei Microsoft für den Bereich Global Real Estate Facilities and Sustainability zuständig ist. „Dabei wurde nachgewiesen, dass sich die Kohlenstoffemissionen aus grauer Energie um 19-46 % reduzieren lassen, wobei die Mehrausgaben weniger als 1 % betragen.“
10. Positiv zu vermerken sind auch die Impulse, die aus der Kooperation zwischen politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträgern entstehen. „Der Privatsektor begrüßt politische Initiativen zur Formulierung, Kommunikation und Umsetzung von Nachhaltigkeitszielen“, betont Joe Speicher, Head of Sustainability & Foundation bei Autodesk. „Unternehmen [brauchen] eindeutige Signale seitens der Politik“, meint auch Eliano Russo, Head of E-Industries bei Enel X. „Erst wenn politische Entscheidungsträger weltweit Nachhaltigkeit als echte Priorität begreifen, können wir wirklich etwas bewirken.“ Seiner Meinung nach haben Unternehmen einen wichtigen Beitrag zur Umsetzung des politischen Willens in konkrete Maßnahmen zu leisten.
11. Dabei dürfe nicht verschwiegen werden, dass die Umstellung auf eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft mit realen, aber teilweise verborgenen Kosten verbunden ist, wie Didier Tshidimba, Senior Partner bei Roland Berger, betont. Als Beispiel nennt er Recycling-Verfahren für Plastikflaschen, die sowohl zusätzliche Kosten als auch zusätzliche Umweltbelastung verursachen können, wenn die falschen Werkstoffe verwendet werden. „Analog gilt das auch für Aluminium. Wir haben bereits mehrere Lieferanten ausfindig gemacht, die sich sehr intensiv mit der Wiederverwertung von Aluminium befassen … aber wir müssen das graduell hochskalieren, und momentan sind wir einfach noch nicht soweit.“
12. Die erfolgreiche Entkarbonisierung der gebauten Umwelt setzt voraus, dass das vorhandene technologische Potenzial tatsächlich genutzt wird. „Digitalisierung, Automatisierung, Sensoren, Datenanalyse … all diese Dinge müssen zusammenwirken, damit wir die nächste Stufe auf dem Weg in eine kohlenstoffneutrale Bauwirtschaft erreichen können“, so Scott Tew, Vice President of Sustainability bei Trane Technologies.
13. Als weiteren Schlüsselfaktor zur erfolgreichen Umsetzung von Klima- und Nachhaltigkeitszielen nennt Edward Kulperger, Senior Vice President für Europa bei Geotab, eine effizientere Datenverwaltung: „Der tatsächliche sozioökonomische Wert der Datensätze, die in den Bereichen Infrastruktur, Energie und Verkehr erfasst und ausgewertet werden, wird gegenwärtig nicht einmal annähernd realisiert.“
14. Damit einher geht der Appell an Gebäudevermieter, mehr Daten zur Verfügung zu stellen. Katie Ross von Microsoft berichtet von den Schwierigkeiten, Zugriff auf die relevanten Daten für angemietete Räumlichkeiten zu bekommen. Das Unternehmen gebe sich große Mühe, den Gebäudeeigentümern zu vermitteln, „dass wir dringend Daten zum Energie- und Wasserverbrauch sowie zur Entsorgung von Abfällen benötigen. Sobald wir diese Daten haben, können wir sie messen und auswerten, um auf die Reduzierung unserer Klimabelastung hinzuarbeiten.“
15. Tools wie der Embodied Carbon in Construction Calculator (EC3) zur Messung der Kohlenstoffemissionen aus grauer Energie können hier wichtige Anhaltspunkte geben. Mike Haigh von Mott MacDonald empfiehlt, bereits in den Planungsphasen unbedingt die Klimabelastung durch Kohlenstoffemissionen zu messen und entsprechende Problemstellen zu identifizieren. „In der Mehrzahl der Fälle findet man Alternativen, die nicht nur die Kohlenstoffemissionen, sondern auch die Kosten senken.“
16. Entkarbonisierung und Elektrifizierung spielen bei der Umstellung auf zukunftsfähige Geschäftspraktiken eine wichtige Rolle. Darüber dürfen jedoch andere Themen wie Resilienz, Kreislaufwirtschaft oder der verantwortungsbewusste Umgang mit Werkstoffen auf keinen Fall aus dem Blickfeld geraten. „Die Überlegung, wie sich ein Werkstoff entkarbonisieren lässt, ist ja gut und schön“, meint Haigh. „Sie muss jedoch einhergehen mit der Frage, ob sich dieser Werkstoff effizienter nutzen und verarbeiten lässt bzw. inwieweit es womöglich sinnvoller wäre, auf andere Werkstoffe umzusteigen.“
17. Die Realisierung einer kohlenstoffneutralen Bauwirtschaft ist nur eine Zwischenstufe auf dem Weg zum aktiven Klimaschutz. „Schon jetzt arbeiten wir an zahlreichen Bauprojekten, bei denen das Gebäude sogar aktiv Energie produziert“, berichtet Tomas Brannemo, Vice President und President, Building Solutions, bei Johnson Controls. Seiner Einschätzung nach ist hier mit einer weiter zunehmenden Nachfrage seitens innovativer Bauträger und Gebäudebetreiber zu rechnen.
Impulse aus der Politik: Einschlägige Initiativen für die AEC-Branche
18. Das Clean Heat Forum ist eine neue Initiative der Global Alliance for Buildings and Construction, die politische und wirtschaftliche Akteure bei der Entwicklung und Umsetzung von Maßnahmen zur Entkarbonisierung von Heizsystemen unterstützen soll, die derzeit einen maßgeblichen Anteil an den Kohlenstoffemissionen der gebauten Umwelt ausmachen.
19. Im Rahmen der UN-Kampagne Race to Zero haben sich inzwischen 1.049 Städte mit einer Gesamtbevölkerung von 722 Millionen Menschen zur Halbierung der Kohlenstoffemissionen bis 2030 verpflichtet. Bis 2050 soll die Umstellung auf kohlenstoffneutrale Bewirtschaftung gelingen. Werden diese Ziele erreicht, könnten die weltweiten Emissionen bis 2030 um 1,4 Gigatonnen pro Jahr reduziert werden. Der Gesamtwert des von der Kampagne erfassten Immobilienbestands beträgt 1,2 Billionen USD (1,06 Billionen Euro).
20. Die neue Clean Construction Coalition unter der Trägerschaft von C40 Cities visiert ebenfalls eine Halbierung der Emissionen aus der gebauten Umwelt bis 2030 an. Zu den Mitgliedern zählen sowohl Städte als auch Privatunternehmen aus der Bauwirtschaft.
21. #BuildingToCOP26 ist eine weitere Initiative zur Förderung der Kooperation zwischen privatwirtschaftlichen und staatlichen Akteuren, die sich verpflichtet haben, die Kohlenstoffemissionen der Baubranche bis 2030 zu halbieren. Darüber hinaus hat man sich jedoch noch ehrgeizigere Ziele gesetzt: Die kohlenstoffneutrale Bewirtschaftung aller Neubauten soll bis 2030 erreicht sein, die Kohlenstoffneutralität während des gesamten Lebenszyklus für den kompletten Neu- und Altbaubestand bis 2050.
22. Die Vertragsstaaten des Pariser Abkommens von 2015 einigten sich in Glasgow auf konkrete Regeln für den internationalen Kohlenstoffhandel. Dadurch werden potenziell zusätzliche Mittel in Billionenhöhe zur Bekämpfung der Klimakrise und zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen freigesetzt. US-Präsident Joe Biden versprach, die Kohlenstoffemissionen seines Landes – das bis dato den größten Beitrag zu den globalen Gesamtemissionen geleistet hat – bis 2030 um 50-52 % gegenüber dem Niveau von 2005 zu senken. Die EU-Mitgliedsstaaten, Großbritannien, Japan und Südkorea machten ähnliche Zusagen.
23. Das jüngst von Präsident Biden unterzeichnete Infrastruktur-Gesetzespaket mit einem Gesamtwert von über einer Billion USD sieht u. a. auch Investitionen in den öffentlichen Nahverkehr, die flächendeckende Umstellung auf Elektrofahrzeuge, die energetische Sanierung der Infrastruktur und die Stärkung der Resilienz in der Wasserversorgung vor. Angesichts wiederholter Unwetterkatastrophen und Hitzewellen in den letzten Monaten, von denen bis zu zwei Drittel der Bevölkerung betroffen waren, hat die US-Regierung den Klimaschutz zur politischen Priorität erklärt, wie es in einem Kommuniqué vom 8. November zu dem neuen Gesetzespaket heißt.
24. Der Ausstieg aus den staatlichen Subventionen für fossile Energieträger wurde erstmals im Rahmen eines Klimaschutzabkommens thematisiert. Vertretende von über 40 Staaten unterzeichneten in Glasgow das „Coal-to-Clean-Statement“ zum langfristigen Verzicht auf die Kohleverstromung.
25. Über 40 Staats- und Regierungschefs wirtschaftsstarker Länder einigten sich auf die Koordination einer umfassenden Energiewende zur Förderung einer kosteneffizienten Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen. Vertretende von 100 Ländern unterzeichneten eine Verpflichtung zur Senkung der Methanemissionen um 30 % bis 2030. Davon verspricht man sich eine Reduzierung der Erderhitzung um 0,1 bis 0,2 °C bis 2050.
26. Die Europäische Kommission sagte Mittel in Höhe von 100 Mio. Euro für den Fonds zur Unterstützung von Schwellenländern bei der Verringerung ihrer Treibhausgasemissionen und der Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels zu. Derweil rief Großbritannien eine neue Initiative unter dem Titel Urban Climate Action ins Leben. Im Rahmen des Programms sollen insgesamt 27,5 Mio. GBP (32,2 Mio. Euro) zur Unterstützung des nachhaltigen Wachstums von Großstädten in Schwellenländern bereitgestellt werden.