Agile Fertigung: Flexible Abläufe für konkrete Erfolge
- Ursprünglich wurden agile Methoden hauptsächlich zur Beschleunigung von Softwareentwicklungsprozessen eingesetzt, inzwischen finden sie auch zunehmend Anwendung in der Entwicklung und Fertigung von Produkten
- Studien von McKinsey zufolge können Unternehmen, die in ihren Fertigungsprozessen einen agilen Ansatz verfolgen, ihre Leistung und Effizienz sowie die Zufriedenheit von Kunden und Beschäftigten um bis zu 30 % steigern
- Durch agile Ansätze können sich Unternehmen schnell und unkompliziert an Veränderungen auf dem Markt anpassen und ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern
Es ist für Unternehmen zurzeit wichtiger denn je, auf die volatile Situation an den Märkten zu reagieren, um wettbewerbsfähig zu bleiben: Die Nachfrage ist extremer Fluktuation ausgesetzt, den Schwankungen in den Lieferketten müssen Strategien entgegengebracht werden, die komplizierte Lage an den Märkten verlangt, dass man auf die Disruptionsstrategien der Mitbewerber angemessen reagiert – der Druck auf die Unternehmen könnte kaum größer sein. Um für Stabilität in einer Welt ständiger Veränderungen zu sorgen, müssen deshalb neue Ansätze zur Produktentwicklung und -fertigung her. Willkommen im Zeitalter der agilen Fertigung.
Was ist agile Fertigung?
Kurz gesagt: Agile Fertigung beschreibt eine Strategie, die darauf abzielt, Unternehmen mit der Fähigkeit auszustatten, auf die sich verändernden Kundenerwartungen und unberechenbaren Entwicklungen auf den Märkten schnell und unkompliziert zu reagieren.
In einer Zeit, in der die Industrie 4.0 in der Praxis immer mehr an Fahrt aufnimmt, erlangen nun auch Fertigungsunternehmen Zugang zu Technologien, die die agile Evolution enorm beschleunigen. Zu den definierenden Eigenschaften agiler Produktion gehören kundenorientierte Ansätze, qualifizierte Fachkräfte, zügige Iterationsprozesse sowie eine kontinuierliche Verbesserung der Arbeitsabläufe im Unternehmen.
Agile Fertigung verschafft Unternehmen folgende Wettbewerbsvorteile:
- Ermöglichung von kundenindividueller Massenproduktion
- Verbesserte Anpassungsfähigkeit durch flexibel einsetzbare Kapazitäten
- Fähigkeit zum zügigen Strategiewechsel im Störungsfall (wie etwa einer Pandemie)
- Voranbringen dezentraler Fertigung zur raschen Lösung von Problemen in der Lieferkette
Agile Fertigungsstrategien sind bereits deutlich auf dem Vormarsch: Studien von McKinsey haben ergeben, dass 12 % der Unternehmen von Anfang an auf agile Prozesse setzen. Weitere 44 % sind gerade dabei, auf agile Produktion umzurüsten. Außerdem tragen agile Ansätze dazu bei, Kapazitätsüberhänge zu vermeiden und das Engagement von Beschäftigten um 30 % zu steigern.
Im Rahmen des Global Lighthouse Network hat das Weltwirtschaftsforum Fertigungsunternehmen für besonders zukunftsweisende Ansätze ausgezeichnet. Trotz der Herausforderungen durch die Coronapandemie ist es diesen Unternehmen gelungen, ihren Gewinn zu steigern und gleichzeitig neue Einnahmequellen zu erschließen. „Aufgrund ihrer Bereitschaft, agile Ansätze vollständig umzusetzen“, so das Urteil des WEForums, „waren diese Fertigungsunternehmen in der Lage, auf die Krisensituation und die damit einhergehenden Veränderungen in Angebot und Nachfrage innerhalb ihrer Produktions- und Wertschöpfungsketten angemessen zu reagieren.“
Agile Produktion – ein geschichtlicher Abriss
Wir schreiben das Jahr 2001: Agile Alliance, ein Team von Softwareexperten, legte das sogenannte Agile Manifest vor, einen revolutionären Ansatz zu flexiblerer Softwareentwicklung. Neben einem schnelleren Entwicklungszyklus bis zur Marktreife wurden im Manifest unter anderem der Begriff der agilen Softwareentwicklung nach den Werten und Prinzipien der Allianz formuliert. Lösungsansätze versprachen besonders die Interaktion zwischen selbstorganisierten und funktionsübergreifenden Teams, die im jeweiligen Kontext auf praktische und funktionierende Vorgehensweisen zurückgreifen konnten.
Rasch wurde aus dem Konzept der agilen Softwareentwicklung eine ganzheitliche Geisteshaltung, da es für Unternehmen klare Vorteile mit sich brachte, einen flexibleren Ansatz zu verfolgen, anstatt sich an ein rigides Regelwerk zu klammern. Nun, zwei Jahrzehnte später, beschäftigen sich schließlich auch Unternehmen der Produktions- und Fertigungsbranche mit der Frage, wie sie von agilen Ansätzen profitieren können.
Dies sind die Grundsätze des agilen Manifests:
- Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Tools
- Funktionierende Software steht über umfassender Dokumentation
- Zusammenarbeit mit dem Kunden steht über Vertragsverhandlungen
- Reaktion auf Veränderung steht über dem strikten Befolgen eines Plans
Diese vier Prinzipien bilden das Grundgerüst für weiterführende Methoden der Softwareentwicklung. Beim Scrum zum Beispiel, einer Strategie, der ursprünglich aus dem Rugby stammt, versuchen Teams von fünf bis neun in unterschiedlichen Funktionsbereichen eingesetzten Personen innerhalb eines Zeitraums von etwa zwei bis drei Wochen, auch „Sprint“ genannt, einen gemeinsam gesteckten Meilenstein zu erreichen. Anstatt sich schwer erreichbaren Mammutaufgaben zu stellen, verfolgen agile Unternehmen beim Elefanten-Carpaccio kleinteilige Ziele, um ein großes Ganzes zu erreichen.
Agile Fertigung im Vergleich mit herkömmlicher Produktentwicklung
Erfahrungsgemäß tut sich die Fertigungsbranche eher schwer damit, traditionellen Produktionsabläufen, die teilweise noch den Zeiten der ersten und zweiten industriellen Revolution entstammen, endgültig den Rücken zu kehren. Doch allmählich wagen sich immer mehr Unternehmen auf unbekanntes – und agiles – Terrain.
Herkömmliche Produktentwicklung
Traditionelle Fertigung von physischen Produkten wird oft als Wasserfallmodell bezeichnet, in dem die Produktentwicklung linear stattfindet. Ein Schritt führt unweigerlich zum nächsten, Abweichungen von der vorgesehenen Route sind nur begrenzt möglich.
Auf dem Papier erscheint der Wasserfallansatz zunächst schlüssig – immerhin diente dieses Prinzip selbst der von Henry Ford Anfang des 20. Jahrhunderts eingeführten Fließbandproduktion als Grundlage. Die logische Abfolge von einem Schritt zum nächsten bietet offensichtliche Vorteile: Sie ist übersichtlich, kompatibel mit Massenproduktion und sowohl für Hersteller als auch für Kunden berechenbar und transparent.
Dies sind die Grundpfeiler der herkömmlichen Fertigung:
- Anforderungen: Alle relevanten Informationen werden gemäß der Ausrichtung, Kosten, Zeitpläne und möglichen Risiken des Projekts gesammelt und dokumentiert.
- Planung: Sobald alle relevanten Informationen zentral verfügbar sind, wird ein Entwurf anhand der Vorgaben des Kunden erstellt.
- Ausführung: Mithilfe des individuellen Projektentwurfs wird der Plan in die Tat umgesetzt und die Ausfertigung beginnt.
- Prüfung: Ist ein Prototyp oder eine Kleinserie verfügbar, muss das Produkt auf den Prüfstand, bevor es an den Kunden zugestellt werden kann.
- Auslieferung: Das Produkt erreicht den Kunden.
- Wartung: Alle Probleme im Zusammenhang mit Kundenservice oder Wartung werden dokumentiert, um diese in der nächsten Produktionsrunde zu behandeln.
Das Amazon Prime Air Project legt mit der Entwicklung seiner Lieferdrohnen ein typisches Beispiel für traditionelle Prozesse in der Produktentwicklung vor. Diese Drohnen müssen folgende Voraussetzungen erfüllen können:
- Zustellung von Päckchen und Paketen bis 2,5 kg innerhalb eines Radius von 15 km in maximal 30 Minuten (von Bestellung bis Zustellung)
- Erfüllung von Sicherheitsanforderungen und behördlichen Auflagen
- Nachverfolgung des Lieferstatus durch Verkäufer und Kunden
Nach der Wasserfallmethode beginnt jede neue Phase im Prozess erst, nachdem die vorherige abgeschlossen ist: Design > Herstellung > Anwendung. Die technischen Vorgaben bzw. spezifischen Anforderungen an das Produkt werden zu Beginn der Designphase ermittelt und bei der Erstellung und Analyse von alternativen Entwürfen berücksichtigt. Sobald ein Entwurf ausgewählt wurde, wird dieser zur weiteren Verarbeitung und Ausführung in die Herstellungsphase übermittelt. Die Zustellung der Lieferdrohne an den Kunden leitet schließlich die Anwendungsphase ein, die auch die Bedienung und Wartung der Drohne umfasst.
In der Praxis verläuft dieser Prozess jedoch nur in Ausnahmefällen so linear. Stattdessen fallen in einzelnen Phasen immer wieder Unterbrechungen durch die Wiederholungen bestimmter Produktionsstadien, durch Feedback seitens des Kunden oder durch teaminterne Optimierungsprozesse an. Während der Designphase wird es beispielsweise zahllose Entwürfe für eine einzige Lieferdrohne geben und in der Fertigungsphase bieten sich meist mehrere Möglichkeiten der Herstellung an. Das ist schon einmal eine willkommene Abweichung vom linearen Modell, doch die Fließrichtung des Wasserfalls ist weiterhin eindeutig.
3 entscheidende Nachteile des Wasserfallansatzes
- Er bietet wenig Raum für Veränderung. Das Wasserfallmodell beruht auf der Annahme, dass Prozesse vorsehbar ablaufen und ohne spontane Anpassungen oder plötzliche Überraschungen geplant und ausgeführt werden. Die spezifischen Kundenanforderungen zu Beginn des Projekts werden während der gesamten Durchführung als konstant betrachtet. Aber die Realität sieht anders aus: Unvorhersehbare Wendungen, auf die ein linearer Ansatz nicht angemessen reagieren kann, sind nun einmal an der Tagesordnung und keinesfalls die Ausnahme.
- Kundenfeedback spielt kaum eine Rolle. Der Großteil der Interaktion mit dem Kunden findet im Vorfeld statt, wenn das Team noch in der Findungsphase ist. Sobald die Planung zur Fertigung verschriftlicht und damit abgeschlossen (im doppelten Wortsinn) ist, macht sich das Produktionsteam an die Arbeit. Jedoch wissen Kunden oftmals zu Beginn des Projekts gar nicht so sehr, was sie eigentlich wollen. Nicht selten werden so trotz der korrekten Parameter in der Planungsphase die falschen Produkte, Bauteile oder Komponenten zum falschen Zeitpunkt hergestellt.
- Er verlangt zu viel Köpfchen, bevor Hand angelegt wird. Erreicht ein Entwurf die Herstellungsphase, wird am Design nicht mehr gerüttelt. Das ist ein Problem am Wasserfallansatz: Da der Kunde erst wieder Einsicht in die Produktion bekommt, wenn er das fertige Produkt in den Händen hält, werden Mängel im Entwurf oft erst in der Herstellungsphase festgestellt. Doch zu diesem Zeitpunkt sind nachträgliche Änderungen am Design kompliziert und kostspielig.
Stelle man sich nun vor, in unserem Drohnen-Beispiel erfährt der Kunde nach ein paar Wochen, dass ein Konkurrent eine leistungsfähigere Lieferdrohne entwickelt. Nun ist das Produktdesign jedoch bereits abgeschlossen und das Fertigungsteam dabei, das ausgearbeitete Konzept in die Praxis umzusetzen. Wollte man die aktuellen Kundenanforderungen an die Konkurrenzsituation anpassen, müsste der gesamte Plan der Drohne überarbeitet, sämtliche Zertifizierungsanalysen wiederholt und die Fertigungsabläufe aktualisiert werden.
Agile Fertigung
Zwar verfolgt die agile Fertigung grundsätzlich denselben Ablauf der Phasen Design > Herstellung > Anwendung, jedoch auf einer weniger streng linearen Route. Das erlaubt eine größere Flexibilität, sodass gewisse Ereignisse simultan stattfinden oder zugunsten eines optimierten Ablaufs angepasst werden können. Aus einem einzigen Produktentwicklungsprozess werden so einzelne modulare Phasen, sogenannte Sprints. Ein Sprint wiederum besteht aus folgenden Schritten:
- Einteilung funktionsübergreifender Teams: Jeden Sprint bestreitet eine selbstorganisierte Gruppe aus fünf bis neun Personen. In jedem Team werden spezifische Rollen verteilt – neben dem Scrum-Master, der die Teamleitung übernimmt, leistet das Entwicklungsteam die produktive Arbeit.
- Erarbeitung eines Produkt-Backlogs: Jedes Team ermittelt die Arbeit, die im Sprint erledigt werden muss, und erstellt die dafür nötigen To-Do-Listen.
- Sprint-Planung: Unter Anleitung des Scrum-Masters setzt das Team die Ausrichtung der während des Sprints zu bewältigenden Aufgaben fest.
- Sprint: Die eigentliche Arbeit beginnt und das Entwicklungsteam macht sich an die Bearbeitung der zuvor festgelegten Aufgaben innerhalb eines befristeten Zeitraums von üblicherweise zwei bis drei Wochen.
- Daily Scrum: Täglich trifft sich das Team zu einer kurzen Bestandsaufnahe.
- Sprint-Bericht: Am Ende eines jeden Sprints wird das Endergebnis vom Team kritisch bewertet – sei es ein fertiges Produkt oder ein zuvor gestecktes Ziel. Es wird herausgearbeitet, was gut gelaufen ist und was nicht, um den Prozess vor Beginn des nächsten Sprints entsprechend zu optimieren.
Ein agiles Fertigungsumfeld bietet mehr Raum für Iteration und Innovation. Der Kunde erhält mehr Einblick in die Prozesse, die er durch sein Feedback verbessern kann. Auf Veränderungen kann anschließend innerhalb der jeweiligen Phase reagiert und die Abläufe den neuen Anforderungen angepasst werden. Die Sprints bedeuten durch den kleinteiligeren Ansatz eine geringere Anfälligkeit für Risiken in der Fertigung bei gesteigerter Flexibilität. Da digitale Workflows zur Überwindung von Silodenken, Verknüpfung von Systemen und Ermöglichung größerer Flexibilität beitragen, werden auch digitale Transformationsprozesse häufig von agiler Fertigung gestützt. Kurz gesagt – anstatt sich immer wieder dem Wandel anpassen zu müssen, vergrößern agile Unternehmen schon im Vorfeld ihre Anpassungsfähigkeit, um wandlungsfähig zu sein.
Der Erfolg von Tesla beruht beispielsweise auf einem agilen Ansatz, indem das Unternehmen die Idee Henry Fords nahm – und völlig auf den Kopf stellte. Elon Musk nutzte seine Erfahrung aus der Softwareentwicklung und setzte agile Prozesse zur Fertigung seiner E-Autos ein. Dabei ist das Unternehmen in der Lage, durch 3D-Modellierung und Generatives Design unterschiedlichste Ideen mithilfe unzähliger Iterationen innerhalb einzelner Produktionsphasen auszuprobieren und das Kundenfeedback zur Anwendung einzelner Features für nachfolgende Projekte zu nutzen.
Allerdings sind bei unsachgemäßer Anwendung auch agile Ansätze nicht gänzlich gegen Komplikationen gefeit.
Mögliche Probleme bei agilen Ansätzen
- Durch die größere Anzahl an Schritten sind agile Prozesse insgesamt störungsanfälliger. Anstatt von A nach B bewegen sich die einzelnen Sprints weniger linear und bedürfen einer erfahrenen Supervision, ohne die schnell der Zeit- oder Kostenrahmen gesprengt werden könnte.
- Ein herkömmliches Unternehmen lässt sich nicht über Nacht in ein agiles verwandeln. Die Kosten für die Fortbildung der Belegschaft stellen ebenso eine Investition dar wie die Anschaffung innovativer Technologien.
- Die Teams können zu Beginn des Projekts nicht genau absehen, welches Ergebnis letztlich dabei herauskommt. Obwohl dies in der Natur agiler Prozesse liegt, kann diese Unsicherheit für Nervosität seitens der Entscheidungsträger und mögliche Reibungspunkte sorgen.
Nach einer Studie der National Association of Manufacturers sind 78 % der US-amerikanischen Unternehmen von maßgeblichen Beeinträchtigungen durch Unterbrechungen der Lieferketten betroffen. Um diese Probleme abzufedern, sollten Unternehmen Strategien zur Umstellung auf agile Methoden entwickeln.
Schlanke Fertigung im Vergleich mit agiler Fertigung
Agile Fertigung wird oft mit der sogenannten „schlanken“ Fertigung verwechselt. Trotz gewisser Überschneidungen gibt es jedoch zwischen den beiden Ansätzen klare Unterschiede.
In der schlanken Fertigung geht es insbesondere darum, Produktionsprozesse durch die Vereinfachung der einzelnen Schritte kontinuierlich zu optimieren. Dieser Ansatz wurde maßgeblich von Toyota ins Leben gerufen und durch das Produktionssystem des Unternehmens geprägt. Hierbei soll eine Wertsteigerung für den Kunden, eine Steigerung der Produktivität und eine Verbesserung der Effizienz durch folgende Faktoren herbeigeführt werden:
- Vermeidung von Abfällen, Redundanzen und Überproduktion
- Reduzierung der Lagerbestände vor Ort
- Produktion nach dem Pull-Prinzip: Bedarfsgerechte Fertigung von Produkten auf Bestellung
- Vermeidung von Stillständen durch präventive Instandhaltung
- Ausräumen von Fehlerquellen durch das Schüssel-Schloss-, bzw. Poka-Yoke-Prinzip
Um die Wertsteigerung für den Kunden und effizientere Abläufe geht es also bei beiden Ansätzen, allerdings steht bei der schlanken Fertigung der Verbesserung interner Arbeitsschritte in Vordergrund, während sich die agile Produktion der Anpassung an externe und globale Faktoren, wie etwa Problemen in den Lieferketten, widmet. Dennoch haben beide Ansätze eine geradezu symbiotische Beziehung zueinander: So bedient sich die agile Fertigung einiger Prinzipien der schlanken Produktion, sodass einzelne Schritte flexibler und anpassungsfähiger an veränderte Umstände ablaufen können. Oder anders gesagt: Schlanke Prozesse sind hilfreich für Unternehmen, um sich agiler aufzustellen.
Einbindung agiler Prinzipien in die Fertigung
Auch wenn es naheliegt, agile Prozesse ganzheitlich auf die Fertigung zu übertragen, ist es wichtig, dieser Versuchung zu widerstehen und ein paar maßgebliche Prinzipien (hauptsächlich aus den Scrums) auszuwählen und gezielt auf die physische Produktion anzuwenden.
Iterationen von Sprints
Insbesondere Sprints erweisen sich bei der Produktentwicklung als effektiver Ansatz, da sie die Teams die Zyklen von Design, Herstellung und Anwendung wesentlich früher, schneller und kleinteiliger durchleben lassen. Der Projektfortschritt verläuft von links nach rechts und die Sprints bieten Lösungen für alle drei Nachteile eines Wasserfallansatzes: Sie führen dazu, dass die Teams nicht zu lange einen Weg einschlagen, der sich später als fehlerhaft herausstellt, sie verkürzen die Zeitspanne zwischen „Denken“ und „Machen“ und sie bieten ausreichend Gelegenheit zur Überprüfung der Anforderungen anhand der Erkenntnisse aus jedem Sprint. Ein weiterer Vorteil besteht in der größeren Flexibilität, wichtige Entscheidungen zum Design auf spätere Phasen im Projekt zu verschieben. Agile Teams müssen sich erst festlegen, nachdem sie bereits eine Reihe von Sprints absolviert und wichtige Erkenntnisse herausgearbeitet haben – ganz im Gegenteil zum Wasserfallansatz, in dem das Design bereits vor Eintritt in die Fertigungsphase feststeht. Bei einem Fortschrittsverlauf von links nach rechts können die Teams diese Entscheidungen auch erst später im Prozess treffen.
Verzicht auf statische technische Vorgaben
Anstatt starrer technischer Vorgaben enthält die Dokumentation die wichtigsten Anforderungen in priorisierten Produkt-Backlogs. Diese sollten nicht nur relevant, durchführbar, verhandelbar, überprüfbar und innerhalb eines Sprints abzuwickeln sein, sondern darüber hinaus Informationen dazu enthalten, wer das Produkt wie und warum verwendet. Anstatt sich in einer rigiden Liste darauf zu konzentrieren, welche Anforderungen das Produkt erfüllen muss, sollte der Fokus der Dokumentation darauf liegen, welche Vorteile der Nutzer mit dem fertigen Produkt hat, und diese an konkreten und nachvollziehbaren Anwendungsszenarien aufführen.
Zusammenarbeit im Team
Durch den agilen Ansatz werden die Struktur der Teams und die Rollen der einzelnen Teammitglieder von Grund auf neu gedacht. Anstatt dass Team nur ihrem eigenen Funktionsbereich (wie etwa Design, Analyse oder Produktion) zugehörig sind, werden in der agilen Methode die Vorteile funktionsübergreifender, selbstorganisierter, intern geführter und kollaborativer Teams betont. Jedes Team ist somit dafür verantwortlich, die im Produkt-Backlog aufgeführten Anforderungen innerhalb der Dauer eines Sprints zu erfüllen. Ein Scrum-Team besteht damit beispielsweise aus dem Product Owner, der die Gesamtverantwortung für die Produktentwicklung trägt, einem Scrum-Master, der den Prozess leitet, und dem Entwicklungsteam, das schließlich die Arbeit erledigt.
Kleinteiligere Ergebnisse im Prozessablauf
Natürlich gibt es auch Gegenargumente: Im Unterschied zur Softwareentwicklung sei es bei agilen Methoden in der Fertigung nicht sonderlich wirtschaftlich und auch nicht immer praktikabel, am Ende jedes Sprints einen Prototyp vorzulegen. Allerdings sind physische Zwischenergebnisse nicht die einzige Möglichkeit zum Nachweis von Fortschritten. Schließlich zählen Computersimulationen, VR-Modelle, digitale Zwillinge oder Konzepte zum 3D-Druck ebenfalls als vollwertige Lieferobjekte. Wichtig ist es dabei jedoch, die Aufgaben im Produkt-Backlog feinsäuberlich aufzuteilen, damit das Team am Ende jeden Sprints auch etwas vorzuweisen hat. Die Aufgaben können auf verschieden Weise aufgeteilt werden, zum Beispiel nach dem Grad der Genauigkeit des Entwurfs, etwa von grob bis zum fertigen Endprodukt, nach dem Stadium der virtuellen bzw. physischen Realisierung oder nach unterschiedlichen Nutzerrollen.
Umsetzung agiler Produktentwicklung
Der schwäbische Automobilhersteller Porsche begann seine Fertigungsprozesse in den 1940er-Jahren auf ganz herkömmliche Art und Weise. Mittlerweile ist das Unternehmen jedoch längst im 21. Jahrhundert angekommen und setzt in seinem hochmodernen Werk in Stuttgart digitale und agile Herstellungsmethoden in die Praxis um. Statt an starren Fließbändern transportieren autonom agierende Tragebühnen, sogenannte Flexi-Lines, die zu bauenden Fahrzeuge von einer Station zur nächsten. Abhängig von der Konfiguration des Autos und der Verfügbarkeit der Ressourcen kann das Unternehmen so jede Bestellung individuell anpassen und die Effektivität seiner Produktionsanlagen optimieren – und dabei den Kundentakt aufrechterhalten. Den großen Schritt zur Neuausrichtung des Werks ging Porsche, als sich das Unternehmen unter dem Aushängeschild Agile@Porsche zur Umstellung auf agile Produktion entschied. Um diese neue Mentalität einzuführen und unternehmensweit eine agile Kultur aufzubauen, zog Porsche sogenannte Agility Coaches als Berater heran.
Wie es mit agiler Fertigung weitergeht
Je mehr Fertigungsunternehmen agile Methoden in ihre Produktion einfließen lassen, desto klarer wird, dass dieses ursprünglich zur Softwareentwicklung ersonnene Prinzip auch für die Herstellung von physischen Produkten eingesetzt werden kann. In den vergangenen zwei Jahren sah sich die Fertigungsbranche enormen Herausforderungen ausgesetzt. Angesichts der auch weiterhin volatilen Lage müssen Unternehmen in der Lage sein, sich immer wieder neu auszurichten, um Wachstum gewährleisten zu können. Vom traditionsreichen Autobauer bis zum kleinen Startup kann agile Fertigung dazu beitragen, dass Unternehmen die Veränderungen in ihrer Umwelt erkennen und sich ihnen anpassen können, um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben.
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Januar 2017 und wurde unter Mitwirkung von Diego Tamburini überarbeitet und aktualisiert.