Bionik in der Architektur: Wie die Natur Bauleute inspiriert
- Die aktuell spannendste Konvergenz zwischen Gestaltungstechnik und Naturwissenschaften beruht auf „Innovationen“, die Millionen oder gar Milliarden Jahre alt sind
- Die Rede ist von der Bionik, mit Hilfe welcher sich Architektur und Technik von in der Natur geltenden Prinzipien wie Effizienz, Widerstandsfähigkeit und Schönheit inspirieren lassen
- Ein Ziel der Bionik: die effiziente und ressourcenschonende Errichtung von Bauwerken
Bionik ist die Nachahmung von in der Natur vorhandenen Modellen, Systemen und Elementen zur Lösung komplexer menschlicher Probleme; in der Architektur und Fertigung bezeichnet der Begriff konkret die Planung von Gebäuden und Produkten, die natürliche Prozesse simulieren bzw. ihnen nachgebildet sind. Zu den bereits verwirklichten Ideen zählen ultrastarke synthetische Spinnenfäden, Klebefilme, die sich das Funktionsprinzip von Geckofüßen zunutze machen, und Turbinenblätter, die Walflossen nachgebildet sind.
„Biologische Systeme gehen anders mit Problemen um als technische Systeme“, so der Biologe Peter Niewiarowski, der am Biomimicry Research and Innovation Center der University of Akron im US-Bundesstaat Ohio forscht.
Menschengemachte Lösungsansätze seien primitiv und rein additiv. Im Vergleich zu natürlichen Prozessen, die einzigartige geometrische und Materialeigenschaften nutzten, sei der zur Beschleunigung von Reaktionen erforderliche Material- und Energieaufwand viel zu hoch.
Zur Veranschaulichung verweist Niewiarowski auf die Haftungseigenschaften der Geckofüße. Ein Mensch könnte sich eine Batterie auf den Rücken schnallen und damit Elektromagneten mit Strom versorgen, um eine senkrechte Metallfläche hochzulaufen. Geckofüße hingegen sind dicht mit winzigen Haaren besetzt, die gerade soviel molekulare Adhäsion wie nötig ausüben, um an der Fläche haften zu bleiben.
Die Natur sei „faul und intelligent“, so Sigrid Adriaenssens, die sich als Professorin für Ingenieurwissenschaften an der Universität Princeton mit Bionik befasst. So sei etwa die Verwertung von Abfällen als Lebensmittel in der Natur ein Grundprinzip der Schaffung ausgewogener Ökosysteme, das die Architektur allzu lange missachtet habe.
Allgemein täten Planende und Architekten gut daran, sich ein Beispiel an der hyper-effizienten Ressourcenwirtschaft biologischer Kreisläufe zu nehmen. Zudem lebt die Natur eine Art von „kritischem Regionalismus“ vor – dem Grundsatz, dass architektonische Werke die geographischen und kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Umgebung reflektieren sollten. So sind beispielsweise manche Parasiten auf einen einzigen Wirt spezialisiert.
Diese Evolution erfolgte selbstverständlich nicht über Nacht, sondern ist das vorläufige Ergebnis von „3,8 Milliarden Jahren Forschung und Entwicklung“, wie Jamie Dwyer von der Beratungsfirma Biomimicry 3.8 betont.
Das Unternehmen wurde von Janine Benyus gegründet, die seit der Veröffentlichung ihres Buchs „Biomimicry: Innovation Inspired by Nature“ (1997) als prominenteste Vertreterin des bionischen Ansatzes gilt. „Die überlebenden Arten machen im Verhältnis zu den bislang ausgestorbenen ein Promille aus“, gibt Dwyer zu bedenken. Insofern sind biologische Lösungen das Ergebnis von Millionen gescheiterter Prototypen.
An der Universität Princeton machte Adriaenssens derweil immer wieder die Beobachtung, dass die effizientesten Lösungen für technische Probleme Vorbilder in der Natur hatten: Die Natur arbeite sehr ressourcenschonend, indem „der Materialaufwand durch gezielten Einsatz so gering wie möglich gehalten wird“. Eben daher rührt ihr Interesse an der Bionik.
Bionik in Architektur und Installationen
Als Beispiel nennt sie die organisch geschwungenen Gehäuse von Seeschnecken, deren Steifigkeit gerade nicht durch hohen Materialverbrauch entstehe, sondern allein „durch die Formgestaltung“ erreicht werde.
In ihrer Tätigkeit als Ingenieurin arbeitet Adriaenssens derzeit an Schutzschirmen, die aufgrund ihrer Gestaltungsmerkmale – Elastizität, Geometrie und Thermobimetallen – auf Sonnenlicht reagieren, ähnlich wie sich eine Blüte öffnet und schließt. In der Praxis haben sich bionische Verfahren bislang eher in der Architektur als in der Ingenieurwissenschaft durchgesetzt. Dabei gibt es gute Gründe für die Annahme, dass letztere eine noch stärkere Affinität zur Bionik aufweist. So formschön naturgegebene Erscheinungen oft ausfallen, spielt die Ästhetik in der Biologie – anders als in der Architektur – allenfalls eine sehr untergeordnete Rolle. Wie für den Ingenieur hat das Nützlichkeitsprinzip in der Natur oberste Priorität, während Anmut und Symmetrie bloße Nebenprodukte sind.
Jenny Sabin lehrt als Professorin für Architektur und leitet das Sabin Design Lab an der Cornell University. Ihr derzeitiger Forschungsschwerpunkt sind photolumineszente Gewebe, deren Strukturen unverkennbar auf biologischen Vorbildern beruhen. Bei ihrer Herstellung kommen Stricktechniken zum Einsatz, die den Aufbau und das Verhalten von Zellgeweben nachahmen. „Die gesamte Morphologie basiert auf Faserstrangbündeln“, erläutert sie. „Stricken ist die Ursprungsform des 3D-Drucks. Dabei wird im additiven Verfahren Reihe um Reihe eine Masche an die andere gekettet.“
Bei ihrem Projekt eSkin (mit finanzieller Unterstützung der National Science Foundation in Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus der Werkstoffkunde, Elektro- und Systemtechnik und Zellbiologie) arbeitet die Wissenschaftlerin mit struktureller Farbe, um die Opazität und Farbe eines Werkstoffs abhängig vom Sonnenlichteinfall zu verändern.
In der Natur lässt sich strukturelle Farbe beispielsweise bei den Flügeln von Schmetterlingen der Morpho-Gattung oder dem Gefieder von Kolibris beobachten. Dem eSkin-Team dient dieses einzigartige Zellverhalten als Inspiration für die Erforschung des bionischen Potentials dieser Materialeigenschaften und -effekte. Diese lassen sich etwa bei der Entwicklung skalierbarer Gebäudehüllen unter Einsatz reaktionsfähiger Werkstoffe und sensorischer Rückkopplungsschleifen nutzbar machen, die auf Umweltsignale reagieren.
Die Installation „Apertures“ der Firma B+U Architecture arbeitet ebenfalls mit Rückkopplungsschleifen, wobei jedoch gleich ein ganzes Gebäude als Organismus begriffen wird. Die futuristisch anmutende Installation aus weißen thermogeformten Kunststoffpolymeren, die an die Rüstungen der imperialen Sturmtruppen aus „Krieg der Sterne“ erinnern, ist mit Wärmesensoren versehen.
Sobald sich Besuchende den an Bullaugen erinnernden Öffnungen nähern, melden die Sensoren ihre Präsenz. Die entsprechenden Wärmedaten werden dann (als Stellvertreter für Blutkreislauf und neurologische Aktivität) automatisch in einen Algorithmus eingegeben, der sie in Klänge übersetzt. Der Summton, der die Präsenz von Menschen anzeigt, wird immer lauter, je mehr Besuchende die Installation betreten.
„Im Grunde genommen [misst er] das Erregungsniveau“, so Herwig Baumgartner von B+U. „Nur dass die Lautstärke und Intensität schrittweise zunimmt, je mehr Menschen sich in der Installation befinden und mit ihr interagieren. So entsteht eine Art Rückkopplungsschleife.“ Und zwar deswegen, weil Besuchende erst von dem gurrenden Summton angezogen und dann abgeschreckt werden, wenn er immer lauter wird. Sobald das Kreischgeräusch wieder abklingt, zieht es erneut Besuchende an.
Baumgartners Eingeständnis, er habe „kein romantisches Verhältnis zur Natur“, kann angesichts der ruppigen Methoden, mit denen er Besuchenden die Prinzipien der Bionik nahezubringen versucht, kaum überraschen. Baumgartner und sein Team interessieren sich weniger für die Natur an sich als vielmehr für das Potential, das sie für mechanische Simulationen bietet. „Was natürlich aussieht, ist in Wirklichkeit hochgradig artifiziell“, betont er.
Damit positioniert sich das Architekturbüro auf einer Seite eines Spektrums, an dessen entgegengesetztem Ende mit Werkstoffen gearbeitet wird, die biologische Eigenschaften nicht nur nachahmen, sondern tatsächlich lebendig sind. Die Bionik ist ein neues Forschungsgebiet, dessen Grenzen nicht eindeutig abgesteckt sind. Grundsätzlich gibt es jedoch zwei unterschiedliche Ansätze: einerseits die Nachahmung biologischer Prozesse, andererseits die Integration lebendiger Werkstoffe.
Nachhaltige Bauwerke durch Bionik
In ihrer Fabrik im US-Bundesstaat North Carolina baut die Firma bioMASON Mauerziegeln in einer Art Gewächshaus an. Das Verfahren, das ohne Brennofen auskommt, soll zur Reduzierung der bei herkömmlichen Herstellungsverfahren entstehenden Kohlenstoffemissionen beitragen. „Wir stellen quasi biologischen Zement her“, so Gründerin und CEO Ginger Krieg Dosier.
Dabei werden Bakterien eingesetzt, die den pH-Wert des Zuschlagstoffs so verändern, dass Calciumcarbonat gebildet wird, das den Zuschlagstoff mit sehr geringfügigen Kohlenstoffemissionen bindet. „Es ähnelt der Methode, mit der Mikroorganismen Korallenriffe bilden“, erklärt Krieg Dosier. Bei einer wesentlich besseren Umweltbilanz – das Baugewerbe ist für ein viertel aller Kohlenstoffemissionen verantwortlich, wobei ein großer Teil aus der Herstellung von Werkstoffen entsteht – kosten die Mauerziegeln von bioMASON kaum mehr als vergleichbare Produkte herkömmlicher Hersteller.
Dass sich Planende, Architekten und Ingenieure gerade in den letzten Jahren bei der Errichtung von Bauwerken der Bionik bedienten, liegt nicht zuletzt an dem hohen Stellenwert, der Begriffen wie Nachhaltigkeit und Effizienz heute weltweit zugemessen wird. Hinzu kommt, dass ihnen bis vor kurzem die erforderlichen Werkzeuge zur Simulation biologischer Prozesse fehlten.
Was können Planende, Architekten und Ingenieure also noch alles von der Natur lernen? Die kurze Antwort auf diese Frage lautet: eine ganze Menge – vorausgesetzt, die einzelnen Fachrichtungen denken und arbeiten verstärkt interdisziplinär. Denn erst durch die enge Zusammenarbeit zwischen Biologie, Architektur, Maschinenbau und Werkstoffkunde entsteht ein fruchtbarer Nährboden, in dem hybride Forschungsschwerpunkte wie die Bionik gedeihen können.
„Keine Fachrichtung hat einen Alleinanspruch auf die Nutzung bionischer Verfahren“, betont Niewiarowski. „Sonst vergiftet man ihr Potential.“
Dieser Artikel wurde aktualisiert. Er wurde ursprünglich im Juli 2016 veröffentlicht.