Digitale Stadtplanung für eine grüne Oase unweit von Abu Dhabi
Als zweithöchster Berg in den Vereinigten Arabischen Emiraten ragt der Daschabal Hafit über 1.200 Meter aus der Wüste heraus. In seinem Schatten liegt die Oasenstadt Al Ain. Seit 2017 bildet der Berg zusammen mit den 5.000 Jahre alten Kuppelgräbern an seiner Ostseite und mehreren Oasen einen Nationalpark, der 2018 unter Naturschutz gestellt wurde. Jetzt wird das Areal unter dem Namen “The Plantations” umgestaltet – digitale Werkzeuge helfen bei der komplexen Stadtplanung.
Im Vorgebirge des Daschabal Hafit soll demnächst mit Methoden der digitalen Stadtplanung ein Bauprojekt entstehen, das Geschichte und Gegenwart verbindet, um das Natur- und Kulturerbe der Region zu schützen und zugleich Vernetzung und Gemeinschaft zu fördern.
Der Masterplan für die Bebauung des Areals mit einer Gesamtfläche von 272 Hektar, die in 1.700 Einzelgrundstücke aufgeteilt werden soll, wurde von dem multinationalen Dienstleistungskonzern GHD im Auftrag von Tamouh Investments entworfen. The Plantations ist als Mischnutzungsprojekt konzipiert; im Bebauungsplan sind Wohnimmobilien ebenso vorgesehen wie Kultur- und Freizeitangebote. Der Bauherr will damit zugleich das geschichtliche Erbe des Bergs würdigen und die Ansprüche einer wachsenden zeitgenössischen Bevölkerung befriedigen.
Der Masterplan sollte als dynamische Grundlage für die langfristige Planung und konzeptionelle Leitlinie für die zukünftige wirtschaftliche und bauliche Entwicklung eines Stadtviertels dienen. Daher war man bei GHD bestrebt, die Erstellung dieses wichtigen Dokuments durch Automatisierung so weit wie möglich zu vereinfachen, um unnötige Nacharbeiten zu vermeiden und Freiräume für mehr Kreativität zu schaffen.
„Traditionell werden Masterpläne in einem zeitaufwendigen Verfahren manuell erstellt“, erläutert BIM-Experte Brenden Picton von GHD. Vom Umstieg auf Automatisierung versprach sich das Unternehmen eine erhebliche Vereinfachung dieser Abläufe.
„Im Rahmen unserer Bestrebungen, zur Optimierung unseres Leistungsangebots verstärkt digitale Lösungen einzusetzen, haben wir unsere Abläufe vollkommen umgekrempelt und mit einem datenorientierten Ansatz gearbeitet“, so Picton. Heraus kam ein mehrphasiger Ablauf: parametrische Modellierung gefolgt von Gebäudedatenmodellierung und Automatisierung. Bei zukünftigen Projekten soll in einem weiteren Schritt auch Generatives Design zum Einsatz kommen.
Zur Unterstützung der Mitarbeiter bei der Umsetzung des neuen Verfahrens führte das Unternehmen unterschiedliche Lernpfade und Schulungsmodule ein. Dabei wurden die Kenntnisse und Kompetenzen der Mitarbeiter an unterschiedliche Automatisierungsstufen angepasst. „Wir haben einen Rahmen und eine Struktur geschaffen, damit unsere Mitarbeiter ihre Fähigkeiten, Kompetenzen und Kenntnisse schrittweise weiterentwickeln können“, so Pictons Kollege Paul Murphy. „Auf den vorhandenen Grundkenntnissen aufbauend, ergab sich eine natürliche Entwicklung, die von der parametrischen Modellierung über die Automatisierung bestimmter Arbeitsabläufe bis hin zu noch komplexeren Kompetenzen führte.“
Als willkommener Nebeneffekt wurde durch die Digitalisierung der Planungsabläufe auch die Trennung zwischen Geometrie und Gebäudedaten aufgehoben. „Unsere Geometriker bewahrten ihre gesamten Daten in Excel-Tabellen auf, und jede noch so kleine Änderung oder Revision musste in allen Dateien einzeln eingepflegt werden“, so Ahmed Hamdy, der bei GHD die Abteilung für Landschaftsarchitektur leitet.
Die BIM-Integration erfolgte mithilfe der vernetzten Tools von Autodesk: Civil 3D als Datenquelle, InfraWorks zur Visualisierung und Revit zur Planung und Dokumentierung. Durch BIM und Automatisierung konnte eine Effizienzsteigerung um mindestens 50 Prozent für Geometrie und Berechnung und um satte 99 Prozent in der Analysephase erzielt werden.
Mit digitaler Stadtplanung Zeit und Geld sparen
Zudem beschleunigte die Automatisierung auch den Zyklus von der Konzepterstellung bis zur Erfüllung der Modellierungsvorgaben des Bauherrn. Dadurch konnte das zuständige GDH-Team in den VAE dem Bauherrn Tamouh Investments innerhalb kürzester Zeit eine Auswahl unterschiedlicher Gestaltungsoptionen anbieten.
„Wenn wir die bei diesem Projekt erzielten Effizienzgewinne auch bei zukünftigen Bauvorhaben umsetzen, könnten wir die eingesparte Zeit zur Einarbeitung in Generatives Design und Entwicklung eines entsprechenden Modells verwenden und unser Leistungsangebot für den Auftraggeber noch weiter optimieren“, so Picton. „Bei Aufgaben, die bisher mit hohem Zeitaufwand manuell abgewickelt wurden, lässt sich durch Automatisierung und demnächst auch Generatives Design mehr Wertschöpfung erreichen, die wiederum dem Bauherrn zugutekommt.“
Als Beispiel nennt Picton die Baueingabepläne für über 1.500 Baugrundstücke, deren manuelle Erstellung erheblich mehr Zeit in Anspruch genommen hätte. „Wir haben das hinterher mal durchgerechnet und sind zu dem Ergebnis gekommen, dass zwei Zeichner zehn Wochen lang daran gesessen hätten, wenn wir das von Hand gemacht hätten“, berichtet Picton. „Stattdessen hat ein Zeichner zwei Wochen gebraucht.“
Mit VR und AR konnte das Projekt schon vor Baubeginn besichtigt werden
Bereits bei diesem Projekt konnte das Team des Bauherrn sich bei Planprüfungen mithilfe von VR und Augmented Reality (AR) einen direkten Einblick in den aktuellen Planungsstand verschaffen. AR kam zur Visualisierung des gesamten Masterplans zum Einsatz, VR zur Begehung des Modells. „Wir haben Schlüsselpunkte identifiziert und dem Auftraggeber als VR-Erfahrungen bereitgestellt, sodass sein Team das entstehende Bauprojekt unmittelbar erleben kann“, so Hamdy.
Diese visuellen Erlebnisse ebneten den Weg für eine echte Projektpartnerschaft zwischen GHD und Tamouh Investments. „Dadurch wurde eine ganz andere – und bessere – Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber möglich“, schwärmt Hamdy. „Wir haben die Planung gemeinsam gemacht.“
Dabei verlief die Automatisierung bei GHD keineswegs immer reibungslos. Die Anwendung der neuen Arbeitsabläufe auf ein reales Bauvorhaben – anstatt wie zuvor auf eine Testumgebung – stellte das Unternehmen vor erhebliche Herausforderungen. „Der Auftraggeber wollte Ergebnisse sehen; Fehler konnten wir uns also nicht leisten“, so Murphy. „Das hieß aber auch, dass wir den Sinn und Zweck dieser Maßnahmen und ihren tatsächlichen Nutzen für den Bauherrn mit eigenen Augen miterleben und unmittelbar von den erzielten Effizienzgewinnen profitieren konnten. Unser Team konnte in Echtzeit sehen, dass sich die finanzielle und zeitliche Investition in den Umstieg auf Automatisierung lohnte.“
Weitere Schwierigkeiten ergaben sich aus den geografischen Besonderheiten dieses Bauvorhabens. GDH war bei der Planung gefordert, der Bedeutung des Dschabal Hafit als landschaftliches Wahrzeichen gerecht zu werden. „Eins unserer Planungsziele lautete, dass möglichst viele Gebäude einen freien Blick auf den Berg erhalten sollten“, erläutert Picton. „Das bedeutete beispielsweise, dass größere Gebäude weiter vom Berg weggerückt wurden, damit die Häuser ringsum eine bessere Aussicht haben.“
Zudem mussten die über das zur Bebauung vorgesehene Areal verlaufenden Wadis berücksichtigt werden – Trockentäler, die nach starken Regenfällen vorübergehend Wasser führen. „Die Automatisierung zeitaufwendiger Routineaufgaben ermöglichte eine intensivere Auseinandersetzung mit den ökologischen und soziokulturellen Planungszielen und -vorgaben“, resümiert Murphy.
Sechs Monate nach Beginn der Projektarbeiten führte Hamdy die neuen Arbeitsabläufe im Rahmen einer konzerninternen Präsentation für andere Teams vor, die ebenfalls den Umstieg auf Automatisierung in Angriff nehmen wollen. „Das Bauprojekt ‚Dschabal Hafit‘ hat die Chancen und Möglichkeiten der digitalen Stadtplanung für andere Teams innerhalb des Konzerns sichtbar gemacht“, ist Murphy überzeugt. „Es legte das Fundament für zukünftige Entwicklungen und vermittelte standortübergreifend ein besseres Verständnis für das Potenzial dieser Technologien.“