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Digitale Transformation der Wertschöpfungsketten: Industrie in Deutschland steht vor grundlegenden Herausforderungen

Digitale Transformation Deutschland
Deutsche Hersteller sollten die Möglichkeiten der digitalen Kollaboration stärker nutzen, um funktions- und unternehmensübergreifend zu arbeiten, individuelle Kundenwünsche schneller umzusetzen und auf Angebot- und Nachfrageschwankungen flexibel zu reagieren; nur so lassen sich Marktanteile erobern und Risiken minimieren. 
  • Die aktuelle Studie der Bitkom Research zur digitalen Transformation bescheinigt deutschen Industrieunternehmen eine mittlere Innovationskraft. Auch bei der Einführung agiler Prozesse haben deutsche Unternehmen noch „Luft nach oben“
  • Unternehmen, die agile und digitale Prozesse in der Unternehmensstruktur verankert haben, sind besser in der Lage, ihre Marktposition auszubauen und neue Kunden zu gewinnen
  • Um im internationalen Vergleich aufzuholen und die digitale Transformation voranzutreiben, müssten deutsche Hersteller die Möglichkeiten digitaler Kollaboration mit Kunden und Lieferanten noch stärker nutzen und mutiger in Bezug auf disruptive Innovationen sein

Im Index für die digitale Wirtschaft und Gesellschaft (DESI) 2022, der von der Europäischen Kommission veröffentlicht wird, steht Deutschland unter den 27 Mitgliedstaaten an 13. Stelle. 2021 lag Deutschland noch auf Rang 11.

Länder wie Kanada, Brasilien, Georgien, Litauen, Vietnam, Frankreich und Italien sind – was die digitale Kompetenz und Investitionen in innovative Softwaresysteme angeht – führend und nur Albanien schneidet im Digital Riser Report 2021 noch schlechter als Deutschland ab. Im globalen Vergleich ist Deutschland innerhalb eines Jahres um 176 Plätze gefallen. Philip Meissner, Studienleiter der vom European Center for Digital Competitiveness herausgebrachten Studie, sagte nach deren Veröffentlichung: „Deutschland hat sich in den letzten drei Jahren deutlich zurückentwickelt. Es wird zwar viel über Digitalisierung gesprochen, aber es passiert zu wenig.“

Das bestätigt auch die Studie der Bitkom Research, die im Auftrag von Autodesk durchgeführt wurde. Ein genauerer Blick auf die Untersuchungsergebnisse zeigt, dass der Digitalisierungsgrad in den verschiedenen Abteilungen von Unternehmen unterschiedlich hoch ist. Am Beispiel des Home Office lässt sich das gut erkennen: Im Vertrieb und der Kundenkommunikation bieten 91 % der befragten Unternehmen ihren Mitarbeitenden die Möglichkeit, flexibel und mobil zu arbeiten. Mitarbeitende im Bereich „Konstruktion und Entwicklung“ haben in neun von zehn Industrieunternehmen (88 %) diese Option. Im Bereich „Installation und Service“ sind es hingegen gerade mal 58 % der Unternehmen, die diese Möglichkeit gewähren. Dies liegt mit Sicherheit auch an der Tatsache, dass klassische Inbetriebnahmen und Services auch nur vor Ort vorgenommen werden können und für die Remote-Arbeit hier der Einsatz von zum Beispiel virtuellen Methoden nötig wäre.

Die Studie der Bitkom Research wirft generell ein Schlaglicht auf den Status quo in Sachen digitaler Transformation. Dazu wurden 502 Industrieunternehmen in Deutschland mit mindestens 20 Beschäftigten unter anderem zum Einsatz von digitalen Tools befragt. Fakt ist, dass gerade bei den mittelständischen Firmen noch Nachholbedarf besteht, wenn es um den Einsatz von Software geht, die stellvertretend stehen für den digitalen Wandel, wie Big Data, Internet of Things oder Künstliche Intelligenz.

Cloud an der Spitze, KI ist Schlusslicht

Blicken wir zuerst auf den Spitzenreiter in der IT-Hitliste. Ganze 96 % der Unternehmen lagern ihre Daten, Applikationen oder Rechenleistung in die Cloud aus. Damit sind Cloud-Anwendungen quasi Standard – könnte man meinen. Blickt man allerdings tiefer in die einzelnen Unternehmensbereiche, stellt man fest, dass zum Beispiel im Bereich „Konstruktion und Entwicklung“ der Wert bei 51,3 %  liegt. Hier gibt es also noch Potenzial bzw. anders ausgedrückt: Offensichtlich bestehen hier noch Bedenken, Daten über Entwicklungsprozesse „außer Haus“ zu geben. Hier vergeben viele Firmen den Vorteil von Cloud-Lösungen, unternehmensübergreifend mit Partnern und Lieferanten zusammenzuarbeiten.

Digitale Transformation Deutschland: Einsatz digitaler Technologien
Während fast alle befragten Unternehmen die Technologie des Cloud Computing nutzen und Speicherplatz und Software über das Internet beziehen, setzen weniger als die Hälfte Big Data Analytics ein (41 %). Nur 11 % aller Unternehmen nutzen bereits das Potenzial von Künstlicher Intelligenz. Credit: Bitkom Research

Noch nicht so weit verbreitet ist der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI), zum Bespiel für Routinetätigkeiten in der Konstruktion oder Vermeidung unnötiger Prozesse in der Fertigung. Lediglich 11 % der Unternehmen nutzen sie bereits. Bei größeren Unternehmen liegt der Prozentsatz höher, nämlich bei 36 %. Der Begriff KI mag vielleicht abschreckend für kleinere Unternehmen klingen. Und tatsächlich bedeutet die Einführung einer solchen Software auch immer Aufwand und fordert von den Verantwortlichen das nötige Fingerspitzengefühl, um Mitarbeitenden Vorbehalte zu nehmen. Dabei liegen die Vorteile auf der Hand. Ein Beispiel ist das norddeutsche Unternehmen VisiConsult, welches Prüfprozesse in der Fertigung ihrer Kunden mit Hilfe von KI-Software übernimmt, wie zum Beispiel die Prüfung von Turbinenschaufeln, Motoren oder Rohren aus Stahl auf Risse oder kleine Poren. So können dauerhaft Zeit und Kosten gespart werden.

Digitalisierung hat viele Facetten

Grundsätzlich ist die Einführung von digitalen Tools immer sinnvoll, um betriebliche Prozesse zu verschlanken. Der Blick in die Unternehmen zeigt, dass Digitalisierung viele Facetten hat und Stand heute die Arbeitsprozesse für einzelne Mitarbeitende mehr oder weniger stark verändert. Schauen wir uns ein paar konkrete Beispiele an, was die „Digitalisierung“ einzelnen Mitarbeitenden in unterschiedlichen Abteilungen und Industriezweigen ermöglicht:

  • Einem Produktdesigner sind dank digitalisierter Planungs- und innovativer Herstellprozesse keine Grenzen in der Formgebung gesetzt.
  • Eine Ingenieurin validiert die reale Steuerung einer Anlage – bereits bevor etwas gebaut wird am virtuellen Modell.
  • Ein Lagerleiter kann mit Hilfe eines Flottenmanagement-Systems erkennen, welche Mitarbeitenden besonders häufig mit ihrem Gabelstapler Unfälle verursachen.
  • Ein Polier kann die dringend benötigte Spezialbohrmaschine orten, weil sie mit einem Transponder versehen ist.
  • Der Fertigungsleiter eines Automobilherstellers wählt auf Knopfdruck ein Lackierprogramm – um die weitere Ausführung kümmern sich dann ganz selbstständig die Roboter.
  • Ein Logistikmanager kann globale Warenströme im Transportmanagement-System live verfolgen und bei Verzögerungen Maßnahmen einleiten.
  • Eine Maschinenbauerin kann den Zustand all ihrer Maschinen überwachen und sehen, wann sie gewartet werden müssen.
Digitalisierung in der Fertigung in Deutschland
Egal, ob in der Simulation, Steuerung oder Wartung: Digitale Tools und Prozesse sind in der Fertigungsindustrie nicht mehr wegzudenken.

Der gemeinsame Nenner all dieser Beispiele: Digitale Prozesse helfen Unternehmen dabei, agiler und schneller zu handeln, Fehler im Vorfeld zu entdecken und zu vermeiden. Prozesse lassen sich einfacher überwachen und steuern.

Doch allein die Einführung von digitalen Tools bedeutet noch nicht, dass das Unternehmen den digitalen Wandel erfolgreich bewältigt hat. Von digitaler Transformation kann man erst dann sprechen, wenn die Firma digitale Tools verwendet, um unternehmensintern und unternehmensübergreifend Daten auszutauschen: um die Produktentwicklung zu verbessern oder schneller auf Kundenwünsche reagieren zu können.

Von der Nutzung eines Tools hin zur digitalen Transformation

Was zeichnet die Vorreiter in Sachen Digitalisierung aus? Ein „Pionier“ wird sein gesamtes Geschäftsmodell an die veränderte Marktsituation anpassen und mit Hilfe digitaler Tools neue Kunden ansprechen und für sich gewinnen. Laut Bitkom Research Studie ist die Hälfte der Industrieunternehmen (50 %) bereit, als Folge der digitalen Transformation, ihr gesamtes Geschäftsmodell anzupassen.

Blicken wir kurz auf solche Firmen, die digitale Tools einsetzen, um erfolgreicher am Markt zu agieren.

1. Neue Services anbieten und neue Einnahmequellen generieren

Der Maschinen- und Anlagenbauer VisiConsult X-ray Systems & Solutions GmbH hat ein cloudbasiertes Product Lifecycle Management-Systems (PLM) eingeführt und konnte dadurch sein Service-Geschäft ausbauen und als Folge dessen neue Einnahmequellen generieren. Eine der wichtigsten Erkenntnisse: Echte digitale Transformation hinterfragt jeden Prozess und verändert die Zusammenarbeit grundlegend. Dass die Unternehmen ihren Fokus vermehrt von der Entwicklung neuer Produkte auf die Schaffung von Dienstleistungen legen, belegt auch die Studie der Bitkom Research.

2. Marktposition durch digitale Planung verbessern

Der Schweizer Lieferant von Zutrittslösungen, dormakaba, hat sich vom Komponentenhersteller zum Lösungsanbieter für vernetzte Zutrittssystemen entwickelt, indem er sein komplettes Türsortiment digitalisiert hat. Architekten und Planenden werden dadurch die Auswahl und Konfiguration der Türen erleichtert. Sie sparen zwischen acht und zehn Stunden beim Prozess der Erstellung von Türlisten ein.

3. Schneller werden in der Produktentwicklung

Die Firma EDAG hat ein vernetztes und autonom fahrendes Roboterfahrzeug entwickelt, das Personen oder Güter transportieren kann. Bei der Entwicklung des EDAG CityBot kamen neue Methoden wie das Generative Design zum Einsatz; durch agile und automatisierte Entwicklungsprozesse konnten Entwicklungskosten und Zeit gespart werden.

4. Kunden bei der Produktentwicklung einbeziehen

Anhand der digitalen Fabrikplanung in 3D hat sich der Abstimmungsaufwand zwischen der Firma Koch Industrieanlagen und seinen Kunden verringert. Der Kunde kann die zukünftige Fabrik mittels VR-Brille „begehen“. So könnte er schon in einer frühen Projektphase begeistert werden, sagt Thomas Theis, Leiter Vertrieb und Projektierung bei der Koch Industrieanlagen GmbH.

Die vorgestellten Unternehmen begreifen digitale Lösungen als Mittel zum Zweck. Sie haben digitale Prozesse eingeführt, um anderen im Wettbewerb voraus zu sein und ihren Marktanteil auszubauen. Wie gut die digitale Transformation gelingt, hängt im Wesentlichen davon ab, wie innovativ und agil ein Unternehmen ist. Die Autoren der Bitkom Research Studie haben diesbezüglich einen Innovationsindex und Agilitätsindex entwickelt, der anzeigt, wie gut aufgestellt die Unternehmen sind, um die digitale Transformation erfolgreich anzugehen und umzusetzen.

Digitalisierung in Deutschland: Bei Innovationskraft und Agilität ist noch „Luft nach oben“

Im Ergebnis sind deutsche Industrieunternehmen insgesamt eher mittelgut aufgestellt; beim Innovationsindex liegen sie im Mittelfeld (49 von möglichen 100 Punkten). Was die Agilität angeht, ist der Status quo etwas besser (66 von 100 Punkten), aber auch hier hinkt der Großteil der Unternehmen noch den Erwartungen hinterher. Die Studienverfasser formulieren weniger drastisch und bescheinigen deutschen Firmen noch „Potenzial“ und „Luft nach oben“. Sie attestieren den Unternehmen eine Verschiebung des Fokus.  Auch wenn sich der Agilitätsindex in fünf Jahren nicht verändert hat, sei das noch kein Zeichen für einen Stillstand.

„Sowohl die Bedeutung von Agilität für die Unternehmen im Allgemeinen, als auch die Bedeutung von Agilität für die Produktentwicklung in Unternehmen ist im Vergleich zu 2017 um jeweils 4 Prozentpunkte angestiegen. Der Fokus scheint nun auf der Integration von Agilität im Zusammenhang mit der Unternehmensstruktur zu liegen. Industrieunternehmen legen mehr Wert darauf, sich den Anforderungen von Projekten durch dynamische und cross-funktionale Teams anzupassen (+4 Prozentpunkte). Dies wird durch den Einsatz von kollaborativen Tools und Programmen zur Zusammenarbeit über Hierarchieebenen und Unternehmensbereiche hinweg vereinfacht und unterstützt (+12 Prozentpunkte).“

Digitale Transformation Deutschland Agilitätsindex
Jedes zweite Industrieunternehmen gibt an, bereits gezielt digitale Technologien einzusetzen, um die Agilität der internen Prozesse zu gewährleisten (53 Prozent). Für zwei von fünf Unternehmen ist es außerdem wichtig, dass die Kunden während der gesamten Produktentwicklung in den Entwicklungsprozess eingebunden sind (46 Prozent). Credit: Bitkom Research

Plakativer ließe es sich so formulieren: Deutsche Firmen müssen aufpassen, nicht ins Hintertreffen zu geraten; vor allem wenn man einen Seitenblick auf die europäischen Nachbarn wirft oder gar den globalen Vergleich zieht.

Jan Niestrath, Industry Manager bei Autodesk, sagt, dass andere Länder weniger Hemmungen hätten, neue Wege zu beschreiten und neue Technologien einzusetzen. „Deutsche Unternehmen sind Weltmeister darin, Produkte und Prozesse Schritt für Schritt zu verbessern und nicht zwangsläufig für disruptive Innovationen bekannt. Da haben andere Regionen Deutschland mittlerweile den Rang abgelaufen, wenn man bedenkt, dass Erfindungen wie das Automobil, das Fernsehen oder der Computer hier ihren Ursprung haben.“

In einer erfolgreichen digitalen Transformation in Deutschland sollten analoge Prozesse nicht nur digitalisiert, sondern vor allem auch kritisch hinterfragt werden.
In einer erfolgreichen digitalen Transformation sollten analoge Prozesse nicht nur digitalisiert, sondern vor allem auch kritisch hinterfragt werden.

Das „Muss“ vor der Digitalisierung: Prozesse hinterfragen

Der Begriff der digitalen Transformation suggeriert, dass die Unternehmen bisher analoge Prozesse digitalisieren sollen. Das ist sicher richtig. Es geht aber nicht allein darum, analoge Prozesse abzuschaffen, sondern auch darum, im Vorfeld die Prozesse an sich kritisch zu hinterfragen. Sind es die richtigen?

Die Zeppelin Lab GmbH, kurz Z Lab – das Start-up des Zeppelin-Konzerns mit Sitz in Berlin – hat eine papierlose Gerätemanagement-Plattform und ein digitales Schließsystem für Gebäude entwickelt.

Wulf Bickenbach, Geschäftsführer des Z Lab, rät Unternehmen, „offen und ohne Denkverbote an das Thema Digitalisierung heranzugehen und als Chance zu nutzen, um unnötigen Ballast in den Prozessen loszuwerden“. Seine Handlungsempfehlung lautet: „Vermeiden Sie den Fehler, Digitalisierung als reine Übersetzung des analogen Prozesses in ein digitales Medium zu verstehen. Dazu macht es großen Sinn, die Mitarbeitenden von Anfang an eng in die Gestaltung und Einführung eines neuen digitalen Instruments mit einzubeziehen, denn sie wissen in der Regel am besten, wo Optimierungspotenziale liegen und zeigen eine hohe Akzeptanz für die Veränderung, wenn sie sie selbst mitgestalten können.“

Unternehmen – egal, in welchem Industriezweig – sollten mutiger den digitalen Wandel vorantreiben und disruptive Technologien für sich nutzen. Die Umstellung auf eine digitale Abwicklung ist kein Selbstzweck, sondern das Vehikel, um sich für die Zukunft besser aufzustellen: um im Wettbewerb vorne „mitzuspielen“, um Kundenwünsche schneller umzusetzen und auf unvorhergesehene Ereignisse und Marktveränderungen schneller reagieren zu können. Letztendlich ist die Digitalisierung die Voraussetzung dafür, um weiterhin als ernstzunehmender Player am Markt wahrgenommen zu werden.

Über den Autor

Susanne Frank hat Amerikanistik, Anglistik und Theaterwissenschaft (M.A.) an der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen studiert und eine Weiterbildung zur Online-Journalistin absolviert. Sie war elf Jahre lang im Marketing eines mittelständischen Softwareunternehmens verantwortlich für die Pressearbeit. 2015 wechselte sie von der PR in den Journalismus. Sie war Redakteurin der Fachmagazine „Materialfluss“ und „LT-Manager“ sowie Chefredakteurin der Zeitschrift „Baugewerbe Unternehmermagazin“. Seit 2019 ist sie freiberuflich als Fachjournalistin tätig u. a. für die LOGISTIK HEUTE.

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