Wie ein Anlagenbauer für Papier- und Zellstoffproduktion auf eine autonome Fabrik setzt
Wie eine stringente Digitalisierungsstrategie im Anlagenbau und die Vision einer autonomen Fabrik Millionen Euro einspart, zeigt der österreichische Anlagenbauer ANDRITZ – ein Wachstumsunternehmen, dessen größter Geschäftsbereich Maschinen für die Papier- und Zellstoffherstellung sind.
Wie wichtig Papier im Alltag ist, wurde uns spätestens in der Corona-Pandemie bewusst. Meterlange Schlangen vor den Supermärkten kämpften um die letzte Rolle Klopapier. Dass hinter dieser Rolle hochmoderne Technologie steckt, weiß jedoch nicht jeder.
Reisen wir in Gedanken nach Ungarn ins Werk des Tissue-Produzenten Vajda Papír: Hier werden jährlich für ganz Europa rund 30.000 Tonnen Servietten, Toilettenpapier und Papierhandtücher erzeugt. Die hochkomplexe Fabrik ist mit Sensoren ausgestattet. KI optimiert die Prozesse. Das Ziel: eine nachhaltige und kosteneffektive Papierproduktion.
„Digitalisierung und Künstliche Intelligenz sind mittlerweile unverzichtbar für die Papierproduktion. Um einen effizienten Betrieb zu gewährleisten, führt an umfassender Sensorik, Big Data und klugen Algorithmen kein Weg mehr vorbei“, so Attila Vajda, Gründer und Geschäftsführer von Vajda Papír.
Der österreichische Maschinen- und Anlagenspezialist ANDRITZ konzipierte und lieferte die komplette Produktionslinie für das ungarische Werk. All das geschieht im sogenannten „Metris Performance Center”, von dem aus ANDRITZ Anlagen und Produktionslinien aus der Entfernung in Betrieb nimmt und bei Bedarf steuern kann. „Die Performance Center helfen unseren Kunden, Probleme zu vermeiden, bevor sie entstehen“, berichtet Gerhard Schiefer, Chief Automation Officer bei ANDRITZ.
„Die Kunden erwarten von uns die Technologieführerschaft“, so Bernhard Grader, Head of PLM Application Services bei ANDRITZ. Für die an den Produktionsanlagen tätigen Facharbeiter und Ingenieure ist datengetriebene Unterstützung heute Alltag. Das gilt nicht nur für den Geschäftsbereich Papier und Zellstoff, sondern auch für die anderen drei Geschäftsbereiche Wasserkraft, Metallbearbeitung und Trenntechnik, für die ANDRITZ Anlagen liefert.
Industrie 4.0 schont Ressourcen
Der guten alten Zeit trauert Klaus Glatz, Chief Digital Officer beim österreichischen Maschinen- und Anlagenbauer ANDRITZ – 27.200 Mitarbeitende, mehr als 6,5 Milliarden Euro Umsatz, über 280 Standorte in über 40 Ländern – deswegen nicht nach, ganz im Gegenteil: „Vor der Digitalisierung unserer Planungs- und Konstruktionsprozesse glich unsere Arbeit oft einer riesigen Papierschlacht. Für eine durchschnittliche Produktionsanlage fielen früher bis zu zwei Tonnen Planungs-, Dokumentations- und Betriebsunterlagen an. Das hat die Abstimmungsprozesse bei großen Projekten äußerst aufwändig gemacht.“
Kein Wunder, denn in vordigitaler Zeit waren Änderungen bei laufenden Konstruktionen ziemlich arbeitsintensiv und fehleranfällig, insbesondere dann, wenn interne und externe Beteiligte aus verschiedenen Ländern und auf mehreren Kontinenten verteilt über eine notwendige Änderung der Konstruktionspläne informiert werden mussten. Doch diese Zeiten sind passé: Heute profitiert ANDRITZ entlang der gesamten Wertschöpfungskette – von der Planung über den Bau bis zur Inbetriebnahme und die laufende Fertigung inklusive Wartung, Reparatur und Deinstallation – von den Vorteilen digitalisierter Planungs- und Steuerungstechniken.
Change-Management auf dem Weg zur digitalen Transformation
„Das Change-Management war die größte Herausforderung, um den Umbruch von Analog auf Digital zu meistern – Informationsflüsse wurden optimiert und einheitliche Datenzugriffe garantiert, um Fehler in der Abwicklung oder beim Transport zu vermeiden“, erklärt Grader.
Solche unvorhergesehenen Ereignisse wären bei Großprojekten wie der 2018 in Betrieb genommenen Tissueproduktionsanlage des ANDRITZ -Kunden Vajda Papír in Ungarn erhebliche Kostentreiber. Die durchgängige Verfügbarkeit von Planungs-Updates ist für ANDRITZ und seine Kunden daher ein wesentlicher Vorteil der hierfür genutzten Softwarelösungen Autodesk Forge, Vault und BIM 360. Statt meterlangen Papierplänen verfügen mit diesen cloudbasierten Softwarelösungen „alle an der Planung und Konstruktion beteiligten Parteien und Mitarbeitende über in Echtzeit synchronisierte Daten“, so Grader.
Dadurch lassen sich auch die Lieferanten deutlich leichter in die rollierende Planung einbinden und Kommunikationsfehler werden vermieden. Das ist bei den von ANDRITZ angebotenen hochkomplexen Industrieanlagen von grundlegender Bedeutung. Denn hierbei handelt es sich nicht um isoliert arbeitende Maschinen, sondern um hochgradig interagierende Produktionsanlagen, deren Komplexitätsgrad dem einer kleinen Stadt ähneln.
Digitale Integration der Stakeholder
Die 3D-Modellierung mit Autodesk AutoCAD und Inventor jedes einzelnen Bauteils in Form eines Digitalen Zwillings hat darüber hinaus noch einen weiteren wichtigen Vorteil: Sie macht die Auswirkungen einer Änderung auf den Rest der Anlage transparent und gibt entsprechende Hinweise.
„Insbesondere der geregelte Zugriff auf die Daten hat unser Change-Management erheblich verbessert. Das erspart uns mühsame händische Änderungen und senkt die Fehleranfälligkeit erheblich. Zudem können die Beteiligten vor Ort die aktuellen Pläne mit Mobile Devices wie Handys oder Tablets ganz einfach abrufen, Änderungen vornehmen und gemeinsame Freigaben erteilen“, erklärt Glatz.
Zustandsüberwachung mittels digitaler Lösungen
Hieran wird deutlich, dass das Internet der Dinge und die Nutzung der dabei anfallenden Prozessdaten nicht nur bei der Planung und Konstruktion, sondern auch im laufenden Betrieb völlig neue Möglichkeiten der Optimierung eröffnen. „Wichtig ist, dass es in Anlagen unserer Kunden keine ungeplanten Shutdowns gibt, denn das schmälert die Produktivität erheblich“, erklärt Glatz.
ANDRITZ unterstützt seine Kunden daher mit industriellen Digitalisierungslösungen unter der Marke „Metris“. Es geht um die Erhöhung der Anlageneffizienz und –rentabilität, die Optimierung der eingesetzten Ressourcen, die Verringerung der Ausfallzeiten sowie die Maximierung der Bedienerfreundlichkeit. ANDRITZ entwickelte unter anderem ein ganzheitliches Produktions-Optimierungs-System mit einem holistischen, und somit fabrikweiten Konzept. Das Metris Risk Based Management überwacht nicht nur einzelne Equipments, sondern schützt die komplette Fabrik vor unerkannten Produktionsausfällen.
Gleichzeitig benötigen die Bedienenden vor Ort ein hohes Maß an Know-how, denn wenn man in einem solch komplexen Prozess wie der Papierproduktion einen Parameter ändere, wirkt sich das oftmals erst nach acht Stunden, also am Ende des langwierigen Produktionsprozesses, aus. „Mithilfe von Datalytics können wir Prognosen zu künftig notwendigen Wartungsarbeiten erstellen und unvorhergesehene Ausfälle von Anlagenteilen vermeiden“, ergänzt Grader.
Schwachstellen proaktiv erkennen
So lassen sich mögliche Schwachstellen schon im Vorfeld erkennen und reparieren. Apropos Reparatur: Die dafür notwendigen Schritte kann der oder die Bedienende mit dem integrierten Ersatzteilkatalog zuverlässig identifizieren und Ersatzteile direkt bestellen. Möglich machen dies 3D-Modelle auf der Basis von Augmented Reality mit Hilfe der Autodesk Technologie Shotgun. Diese führt die Benutzenden sicher durch Wartungs- und Reparaturvorgänge.
„Dabei handelt es sich um eine komplette Nachbildung der Anlagensegmente: Man sieht beispielsweise, wie sich die entsprechende Schraube löst, der Reparaturvorgang ist komplett animiert. Seit der Pandemie nutzen unsere Kunden verstärkt die Möglichkeit der Fernwartung und der Remote-Inbetriebnahme“, erklärt Glatz die Vorteile dieser Lösungen.
Im Digitalen Zwilling Produktionsprozesse optimieren
Ein weiteres Schlüsselelement von Metris ist die Optimierung des Produktionsprozesses. Diese Analysesoftware korreliert die Daten sämtlicher Regelkreise einer Anlage wie zum Beispiel Ventile und Motoren. „In einer Zellstofffabrik sind insgesamt zwischen 15 und 17.000 Sensoren eingebaut. Die so gemessenen Big Data werden mit Hilfe von Clustering-Algorithmen bewertet und korreliert. Dadurch zeigen sich Optimierungspotenziale im Betrieb der Anlage. Diese bewerten wir dann gemeinsam mit dem Kunden und leiten daraus zukünftige Anpassungen zur Produktionsverbesserung ab“, erläutert Grader die Anwendervorteile dieser Lösung.
Big Data sicher managen
Doch wo viele Informationen gemanagt werden müssen, stellt sich immer auch die Frage nach der Datensicherheit. Um diese zu gewährleisten, bietet ANDRITZ mit seinem Tochterunternehmen OTORIO ein umfangreiches Cybersecurity-Programm an. Das vor einigen Jahren gegründete Unternehmen besitzt jahrzehntelange Erfahrung im Bereich Datensicherheit und stellt mit seinem Know-how die Integrität und Verfügbarkeit der hochsensiblen Anlagendaten sicher.
Wertschöpfungsprozesse vertiefen
Eine der wesentlichen Herausforderungen bei der Datenerhebung ist die Analyse der dabei anfallenden Datenmengen. „Hier arbeiten wir darauf hin, die Prozesse weiter zu automatisieren. Das Fernziel ist die autonome Fabrik, die fast ohne menschliches Zutun produziert und sich dabei selbst überwacht und steuert“, erklärt Grader.
Dass die bereits heute erzielten Vorteile der Digitalisierung nicht nur den Kunden von ANDRITZ, sondern auch dem Unternehmen selbst zugutekommen, verdankt sich der nahtlosen Integration der hier beschriebenen Leistungsmerkmale in die unternehmenseigene Wertschöpfungskette: „Dank der Digitalisierung erreichen wir heute eine wesentlich höhere Prozesstiefe, die wir unseren Kunden zusätzlich als wertschöpfende Lösungen anbieten können. Das betrifft insbesondere die Bereiche Service, After Sales und Wartung“, so Grader. Damit bietet ANDRITZ nicht nur eine Anlage, sondern eine stringente Digitalstrategie, welche Prozesse klug optimiert. Mit diesem Angebot hat ANDRITZ für seine Kunden bereits Einsparungen in Höhe von mehr als 150 Millionen Euro realisiert. „Und diese Summe erhöht sich Tag für Tag“, fügt Glatz nicht ganz ohne Stolz hinzu.
Allein die Optik des sogenannten Performance Centers im ANDRITZ Hauptquartier in Graz, welches mit seinen großen Flachbildschirmen, auf denen Diagramme, Grafiken und Zahlen dargestellt werden, dem Kontrollzentrum einer Raumfahrtmission gleicht, lässt an dieser Aussage keinen Zweifel zu. Wir sind in der Zukunft angekommen.