Fackräftemangel in den USA: Architektur- und Ingenieurbüros setzen auf zugewanderte Spitzenkräfte
- Auch in den USA leiden Unternehmen zunehmend unter dem Fachkräftemangel. Doch durch globale Anwerbestrategien verschaffen AECO-Firmen sich nun Zugang zu einem weltweiten Pool hochqualifizierter Spitzenkräfte
- Fachkräfte, die auf dem internationalen Arbeitsmarkt erfolgreich sein wollen und eine Umsiedlung ins Ausland erwägen, müssen neben technischen Kenntnissen auch ausgeprägte Kompetenzen in den Bereichen Kommunikation und Networking aufweisen
- Durch Aufbau einer Kultur der Unterstützung sowie Hilfe bei den bürokratischen Formalitäten, Mentorenprogramme und Networking-Chancen können Unternehmen zugewanderte Fachkräfte effektiv bei der Eingewöhnung unterstützen und profitieren ihrerseits von allen Vorteilen einer multikulturellen Belegschaft
Fast jede siebte Fachkraft im US-amerikanischen Architektur- und Ingenieursektor kommt aus dem Ausland. Das ergab eine Analyse des New American Economy Research Fund auf der Basis aktueller Daten aus dem American Community Survey. Im Bauwesen liegt der Anteil der zugewanderten Fachkräfte mit knapp 25 % sogar noch höher.
Es ist davon auszugehen, dass der Bedarf an zugewanderten Arbeitskräften in den Bereichen Architektur, Ingenieurwesen, Bau und Gebäudebetrieb (AECO) auch in den kommenden Jahren nicht nachlassen wird. Denn der Fachkräftemangel in den USA wird tendenziell steigen, auch in den Bereichen Architektur und Ingenieurwesen. Einer Prognose des US Bureau of Labor and Statistics zufolge ist in den Architektur- und Ingenieursberufen im Zeitraum bis 2032 mit einer überdurchschnittlich schnellen Zunahme der insgesamt benötigten Arbeitskräfte in der Größenordnung von etwa 188.000 offenen Stellen pro Jahr zu rechnen.
Bei der Einstellung von Arbeits- und Fachkräften aus dem Ausland geht es indes keineswegs nur um die Besetzung offener Stellen. Durch Anwerbung qualifizierter Arbeitskräfte unterschiedlicher Herkunft fördern Unternehmen eine Kultur der Vielfalt und Inklusion und verschaffen sich eine bessere Ausgangsposition, um den Anforderungen der Zukunft gerecht zu werden. Unternehmen, die offene Stellen weltweit ausschreiben und proaktiv Arbeitskräfte aus dem Ausland anwerben, erweitern dadurch zudem den Pool der qualifizierten Bewerber und Bewerberinnen.
Wer diese Maßnahmen erfolgreich umsetzen und im vollen Umfang von den Vorteilen einer multikulturellen Belegschaft profitieren will, muss dabei auch die Herausforderungen verstehen und entsprechend berücksichtigen – nämlich durch den Aufbau eines vorurteilsfreien Betriebsklimas und einer Kultur der gegenseitigen Wertschätzung –, die sich bei der Umsiedlung in ein anderes Land ergeben können.
Multikulturelle Unternehmen haben bessere Zukunftschancen
Unternehmen, die Vielfalt fördern und auf eine multikulturell aufgestellte Belegschaft mit starken technischen Kompetenzen und verschiedenen Erfahrungshintergründen setzen, haben bessere Chancen, mit dem Tempo der aktuellen und zukünftigen Veränderungen in der Branche mitzuhalten.
Das Bekenntnis zu Vielfalt und Inklusion muss jedoch über die bloße Erfüllung von Quoten hinausgehen, wie Prateek Chitnis bekräftigt, der bei Symetri als Produktspezialist den Bereich strategische Implementierung betreut: „Wirklich erfolgreich sind solche Unternehmen, die gezielt eine leistungs- und qualifikationsbasierte internationale Einstellungsstrategie betreiben.“
Nach dem Bachelorstudium der Ingenieurwissenschaften in Mumbai machte Chitnis einen Masterabschluss an der University of Florida. In seiner jetzigen Position führt er in Zusammenarbeit mit einem Produktentwicklungsteam Beta-Tests von Produkten sowie Schulungen durch. 2023 nahm Chitnis als Referent an der Tagung „BIMigration: Transforming AECO Through Immigration, Diversity, and Technology“ teil. Die Veranstaltung der Autodesk University brachte AECO-Fachleute aus verschiedenen Ländern und mit unterschiedlichem Hintergrund zusammen, um über Maßnahmen zu diskutieren, mit denen Unternehmen Vielfalt fördern und zugewanderte Fachkräfte unterstützen können. Neben Chitnis saßen Thesla Collier, Nima Azad, Shir Rustici und Eve Lin auf dem Podium.
In der Diskussion hoben die Teilnehmenden eine Reihe von Vorteilen hervor, die sich aus der proaktiven Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland ergeben. Ein Team mit vielfältigen Erfahrungshintergründen bringe zum Beispiel „eine Vielzahl von Ideen und Perspektiven ein“, so Azad, der bei AHA Consulting Engineers den Bereich BIM/VDC leitet. „Letztendlich trägt dies zur effektiveren Problemlösung bei.“
Im Kampf gegen Fachkräftemangel in den USA: Mehr Belastbarkeit durch zugewanderte Arbeitskräfte
Zugewanderten Arbeitskräften wird bereits während des Einwanderungsverfahrens eine hochgradige Anpassungsfähigkeit und Belastbarkeit abverlangt. „In einem neuen Land ganz von vorne anzufangen, ist nicht einfach“, ist Azad überzeugt. „Man muss flexibel sein und sich an die neue Umgebung anpassen.“
Dazu zählt nicht zuletzt der Papierkrieg, der erforderlich ist, um sich erfolgreich durch die komplexe Bürokratie der US-Einwanderungsbehörden zu kämpfen. „Man kann alle erforderlichen technischen und kommunikativen Kompetenzen mitbringen und muss trotzdem eine weitere Hürde überwinden, nämlich die erfolgreiche Beantragung eines Visums“, so Chitnis.
Der Berufseinstieg in den USA kann ebenfalls eine Herausforderung darstellen. Collier, Design Technology Manager bei HNTB, berichtet, dass es etwa ein Jahr dauerte, bis sie ihren ersten Job in den USA gefunden hatte. Collier hat an der Universität von Honduras einen Bachelor-Abschluss in Architektur erworben und arbeitet seit mehr als 25 Jahren in der AECO-Branche. In ihrer jetzigen Funktion unterstützt sie Architektur- und Planungsfachleute bei der Arbeit mit unterschiedlichen Softwareplattformen zur Optimierung ihrer Kompetenzen und Arbeitsabläufe.
Die Arbeitssuche für zugewanderte Fachkräfte werde zusätzlich dadurch erschwert, dass „wir als Ausländer nicht viele Kontakte in den USA haben“, glaubt Chitnis. Seinen ersten Praktikumsplatz habe er einem mit seinem Vater befreundeten Architekten zu verdanken gehabt.
Bis heute setze er sich selbst unter Druck, „immer 110 % zu geben, denn ich weiß, dass es da draußen andere Menschen gibt, die diese Chance womöglich noch mehr verdient haben als ich. Aber ich möchte zeigen, dass ich hier bin und einen Beitrag leiste.“
Collier sieht es aus eigener Erfahrung ähnlich: „Wir strengen uns besonders an – nicht, weil wir andere Leute in den Schatten stellen wollen, sondern weil es für uns ums Überleben geht.“ Azad betont ebenfalls die unbedingte Notwendigkeit, „die Kultur des Landes, in dem wir leben, zu verstehen und zu erlernen und mit diesen kulturellen Unterschieden zurechtzukommen.“
Die Eingewöhnung in eine neue Arbeitskultur kann schwerfallen
Von Visumsproblemen bis hin zu effektiver Kommunikation und Networking sehen sich AECO-Fachleute, die in die USA umsiedeln, mit zahlreichen Herausforderungen konfrontiert. Dazu zählen nicht zuletzt kulturelle Unterschiede – sei es, die feinen Details der amerikanischen Popkultur zu durchdringen, sich daran zu gewöhnen, den Chef mit dem Vornamen anzusprechen, oder mit dem weniger gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehrsnetz zurechtzukommen.
Auch die Umstellung auf andere Maßeinheiten kann gerade für Fachkräfte in technischen Branchen gewöhnungsbedürftig sein. „Ich habe Ingenieurwesen im metrischen System studiert, und als ich in die USA kam, fiel es mir zunächst schwer, die Maße bei meiner Arbeit im Kopf umzurechnen“, sagt Chitnis. Collier ergänzt jedoch, dass die Kenntnis verschiedener Maßsystem bei der Zusammenarbeit mit ausländischen Firmen durchaus vorteilhaft sei.
Collier schätzt sich zudem glücklich, zwei Sprachen zu beherrschen. Sie bekennt, dass sie sich früher als neu zugewanderte Fachkraft sehr schwer damit getan hätte, auf der Bühne vor einer Gruppe von Menschen zu sprechen. „Aber diese Angst muss man überwinden“, ist sie überzeugt.
Azad stimmt zu, dass die Fähigkeit, effektiv zu kommunizieren, für zugewanderte Fachkräfte unerlässlich ist. „Technische Kompetenzen reichen nicht aus, wenn man sie nicht entsprechend kommunizieren kann“, sagt er. „Wenn Sie Ihr großartiges Produkt, Ihre Fähigkeiten oder Ihre Ideen nicht verkaufen oder präsentieren können, können Sie auch keine Anerkennung dafür erwarten.“
Besonders stark machen sich kulturelle Unterschiede bei Kommunikations- und Führungsstilen sowie Problemlösungsansätzen bemerkbar. Azad stellte zum Beispiel fest, dass in den USA eine direkte und offene Kommunikation sehr geschätzt wird. Daraufhin habe er „angefangen, proaktiv Fragen zu stellen, meine Ideen mitzuteilen oder Diskussionen mit Kollegen und Kolleginnen anzustoßen“.
Lin, die als strategische Beraterin und Nachhaltigkeitsbeauftragte bei Symetri arbeitet, verweist darauf, dass es in ihrer Kultur ein Zeichen des Respekts sei zu warten, bis eine andere Person zu Ende gesprochen hat, bevor man sich zu Wort melde. Infolgedessen müsse sie sich bei der Arbeit oft selbst ermahnen, ihre Meinung zu Gehör zu bringen. Andererseits könne sie aufgrund ihres kulturellen Hintergrunds auf „einen höflicheren, eher indirekten Kommunikationsstil“ zurückgreifen, der etwa bei der Teamarbeit oder bei der Lösung von Konflikten nützlich sei.
Effektive Unterstützung für zugewanderte Fachkräfte
Durch globale Anwerbestrategien verschaffen Unternehmen sich Zugang zu einem weltweiten Pool hochqualifizierter Spitzenkräfte. Eine erfolgreiche Integration zugewanderter Arbeitskräfte in die Betriebskultur setzt jedoch die Bereitschaft voraus, „kulturelle Unterschiede zu akzeptieren und zu respektieren“, betont Azad. Praktische Unterstützung bei der Bewältigung der bürokratischen Hürden, die es bei der Einwanderung zu überwinden gibt, kann ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Lin führt an, sie hätte sich Zugang zu mehr Ressourcen gewünscht, die ihr bei der Abwicklung der Formalitäten geholfen hätten.
Networking- und Mentoring-Programme sind ebenfalls sinnvoll, um zugewanderte Fachkräfte bei der Eingewöhnung zu unterstützen. In Chitnis' Unternehmen, wo es kein offizielles Mentorenprogramm gebe, fungiere ein Vorgesetzter inoffiziell als Mentor. „Er hört mir zu, wenn ich Probleme habe, bringt mir Dinge bei und zeigt mir, was ich tun soll – das ist großartig. Es ist immer gut, wenn man von jemandem lernen kann.“
Effektive Maßnahmen zur Unterstützung zugewanderter Fachkräfte dürfen nicht sporadisch und punktuell sein – vielmehr müssen sie unternehmensweit konsequent umgesetzt und von der Führungsebene verantwortet werden. „Es kommt wirklich auf die Kultur eines Unternehmens an und darauf, inwieweit die Führungskräfte den Wert zugewanderter Fachkräfte sehen“, betont Lin. Ein Bekenntnis zu Vielfalt und Inklusion auf der Website reiche nicht aus, sondern es muss „bewusst und gezielt eine Kultur der Unterstützung geschaffen werden“.