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Originelle Gestaltung macht aus leerstehender Struktur einen Hort für kreative Köpfe

gantry design concept illustration the trampery at the gantry

Keine Frage: The Trampery on the Gantry im Osten Londons ist der Inbegriff der kreativen Wiederverwertung. Die Gerüststruktur, die ehemals als HLK-Zentrale eines riesigen, anlässlich der Olympischen Spiele 2012 errichteten Sendezentrums fungierte, wurde unter der Leitung des Architekturbüros Hawkins\Brown zu einem innovativen Hub für den Kunst- und Medienbereich umfunktioniert.

Auf ihren insgesamt drei Stockwerken umfasste die Struktur an der Rückseite des Sendezentrums zunächst die HLK-Anlagen zur Kühlung der sich darin befindlichen Studios. Nachdem sie im Anschluss an die Olympischen Spiele in ihrer ursprünglichen Funktion jedoch ausgedient hatte, drohte ihr der Abriss – bis das Team von Hawkins\Brown ihr Potenzial erkannte. „Die Struktur entsprach gewissermaßen einem gebrauchsfertigen ,Regal‘“, erinnert sich Andrew Hills, der als Architekt an dem Projekt mitwirkte. „In unseren Augen wartete das Gerüst geradezu darauf, mit interessanten, spannenden Objekten gefüllt zu werden.“

Genau dieser Idee entsprang das gestalterische Konzept hinter dem Projekt: Aus der leerstehenden Struktur sollte eine Art Wunderkammer im Stil des Viktorianischen Zeitalters werden. Diese Vorstellung veranschaulichte das Architekturbüro in Form modellhafter Bildkollagen, auf denen Dampfmaschinen, ein Flugzeug und ein altmodisches Metronom zu sehen waren, die in markantem Kontrast zu moderneren Abbildungen von Spielzeugvögeln und -kameras, einem Wohnwagen, einem Riesenrad sowie einem roten Blechroboter standen.

gantry design studio facades
Die verspielten Außenwände der Ateliers sind gleichermaßen Ausdruck von Kreativität als auch ein Tribut an die industrielle Vergangenheit des Stadtviertels. Mit freundlicher Genehmigung von Rory Gardiner/Hawkins\Brown.

Doch auch die vollendete Struktur, die 21 Ateliers für Künstler und Kreativunternehmen umfasst, strotzt vor schierer Experimentierfreude. Die Ateliers verfügen jeweils über einen quadratischen Raum mit einer Seitenlänge von 26 Fuß (rund 8 Meter) und sind im Schachbrettmuster angeordnet, um das Gewicht optimal über die freitragende Stahlstruktur zu verteilen. Im Gegensatz zu den dezenteren Fassaden der zwei Stockwerke umfassenden Ateliers an der Rückseite fallen die einstöckigen Werkstätten an der Vorderseite mit ihren Kunstgrasverkleidungen und glänzenden Polykarbonatplatten um einiges extravaganter aus. Hier stechen Struktur und Form – inspiriert vom Pariser Museum Centre Georges Pompidou, das etablierte Prinzipien des Innen- und Außendesigns bewusst auf den Kopf stellt – durch ihre postmodernen bis bizarren Noten hervor.

The Trampery on the Gantry befindet sich im ehemaligen Industriegebiet Hackney Wick, das heute als Wirkungsstätte zahlreicher Künstler und kreativer Köpfe gilt. Die Ateliers tragen die Spuren der handwerklichen Vergangenheit des Stadtviertels offen zur Schau: Jede Fassade zollt auf ihre Weise den Fabriken und Werkstätten Tribut, die diese Gegend im Osten der Stadt bestimmten, bevor die industrielle Produktionsarbeit weitgehend ausgelagert wurde.

Namhafte Beispiele in diesem Zusammenhang wären etwa eine Fassade im unverkennbaren Streifendesign der Verpackungen des lokalen Süßigkeitenherstellers Clarnico oder ein Atelier, das durch sein unkonventionell verworrenes Muster aus weißen Platten ins Auge sticht – ein Verweis darauf, dass die Gegend früher als Deponie für ausrangierte Kühlschränke diente, die hier meterhoch in den Himmel ragten. In Erinnerung an Einwanderer aus den baltischen Ländern, die im 20. Jahrhundert in der Nähe eine revolutionäre, unter dem Namen „London Cure“ bekannte Methode zum Räuchern von Lachs entwickelten, ist ein weiteres Atelier in einen warmen, transparenten Orangeton gehüllt, der die markante Färbung dieses Fisches in Erinnerung ruft. (Eine interessante Randbemerkung: Noch heute wird in der Fabrik H. Forman & Son in unmittelbarer Nähe Lachs geräuchert.)

Die unter Marktwert angebotenen Ateliers seien, so Chris Robertson von The Trampery, dem mit der Verwaltung der „vertikalen Siedlung aus nachhaltigen Ateliers“ beauftragten Sozialunternehmen, zu achtzig Prozent örtlichen Kreativunternehmen vorbehalten. Dank eines auf Paragraph 106 der örtlichen Raumordnung (Town and Country Planning Act 1990) gestützten Abkommens zwischen den lokalen Planungsbehörden und Baugesellschaften, das dafür sorgt, dass letztere neben der privaten Baulandentwicklung ihren Beitrag zur Umsetzung von Projekten mit Gemeinschaftsnutzen wie öffentlichen Kunsteinrichtungen oder Parks leisten, kann das Projekt überdies auf finanzielle Unterstützung zählen.

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Die „vertikale Siedlung“ nach ihrer Fertigstellung. Mit freundlicher Genehmigung von Rory Gardiner/Hawkins\Brown.

„In einer Zeit, in der herkömmliche Infrastruktur schwerer zugänglich ist und steigende Mietpreise kreativen Leuten die Arbeit unmöglich machen, zeigt dieses Projekt, dass innovative Architektur leerstehenden Flächen neues Leben einhauchen kann“, meint Robertson.

Kostengünstige Planung dank Crowdsourcing

Maßgeblich verantwortlich für die bescheidenen Kosten und die generelle Umsetzung des Projekts war die Wahl der Baumethode. Die Kreativwerkstätten basieren allesamt auf kostenlos über die Crowdsourcing-Plattform WikiHouse verfügbaren Bauplänen, Renderings und Anleitungen, die Aufschluss darüber geben, wie sich völlig ohne qualifizierte Arbeitskräfte und mit praktisch nichts weiter als einer CNC-Fräse ausgestattet Strukturen im Format eines Einfamilienhauses zum Schnäppchenpreis von nur 48.000 USD umsetzen lassen.

Obwohl WikiHouse zurzeit lediglich ein einziges Prototypenmodell bietet, umfasst die Plattform Open-Source-Bautechnologien, die es Architekten, Ingenieuren oder auch Hobby-Handwerkern ermöglichen, mit einer Art von digitalen LEGO-Bausteinen eigene Strukturen zu gestalten. Gemäß den Spezifikationen des WikiHouse-Entwurfs bestehen die Ateliers von The Trampery on the Gantry aus mit CNC-Fräsen zurechtgeschnittenen und mithilfe von Keil- und Stiftverbindungen zusammengesetzten Schichtholzplatten. Verbindungsscheiben sorgen dafür, dass auch rechtwinklig zueinander verlaufende Platten fest miteinander verankert sind.

Das Ganze kann als individuelle Modularbauweise unter Verwendung der allgemein zugänglichsten Mittel beschrieben werden. Anstelle von 3D-gedruckten Bauelementen mit komplexen Formen bestehen die Ateliers voll und ganz aus zweidimensionalen Holzplatten. Clayton Prest, leitender Forschungs- und Planungsmitarbeiter bei WikiHouse, vergleicht das Projekt mit den Aufnahmen des britischen Musikers Elvis Costello, die „dazu gedacht waren, über die schlechteste, billigste Art von Transistorradio gehört zu werden.“

The Trampery on the Gantry ist das bisher einzige Projekt, bei dem die WikiHouse-Plattform in einem derartigen Maßstab zum Einsatz kam. Um sämtliche Ateliers individuell gestalten zu können, musste man folglich auf zusätzliche Automationsschritte setzen. „Zuvor war WikiHouse immer nur ein Hilfsmittel zur Umsetzung von Einzelstrukturen“, so Hills. „Plötzlich sahen wir uns aber der Herausforderung gegenüber, gleichzeitig 21 verschiedene Ateliers fertigzustellen.“

Die Ausprägung der einzelnen Studios bestimmte Hills durch Festlegen entsprechender Parameter in einer Excel-Datei, wodurch der Schnittverlauf der CNC-Fräse automatisch angepasst wurde. Gleichzeitig generierte ein mit Dynamo Studio erstelltes Skript in Revit automatisch die einzelnen auf dem WikiHouse-Modell basierenden Grundstrukturen. Der Algorithmus aktualisierte die entsprechenden 3D-Modelle und schon konnte die Montage beginnen, welche pro Atelier zwischen sieben und zehn Tage in Anspruch nahm. Dieser Ansatz habe laut Hills ein größeres Maß an Freiraum zugelassen. „Bei einer Massenfertigung dieser Größenordnung ist das von entscheidender Bedeutung. Ohne einen solchen Prozess kommt man nie über technische Zeichnungen hinaus, wenn man versucht, modulare Baustrukturen in einem derartigen Umfang individuell zu gestalten“, betont er.

Die Ateliers sind Variationen des WikiHouse-Modells. Mit freundlicher Genehmigung von Hawkins\Brown.
 
Einer der ersten Entwürfe der Gerüststruktur. Mit freundlicher Genehmigung von Hawkins\Brown.
 
Eine Atelierfassade aus der Nähe. Mit freundlicher Genehmigung von Rory Gardiner/Hawkins\Brown.
 
Buntes Farbenspiel: eine der Haut, den Fischschuppen und dem Fleisch eines Lachses nachempfundene Fassade. Mit freundlicher Genehmigung von Rory Gardiner/Hawkins\Brown.

Dennoch kommt das WikiHouse-Modell nicht ohne Einschränkungen aus. Zum Beispiel wäre da die Tatsache, dass es in der Praxis auf maximal drei Stockwerke begrenzt ist, da höhere Holzstrukturen ein robusteres Material wie etwa Kreuzlagenholz erfordern würden. Diese Möglichkeit schließt Prest für die Zukunft aber keineswegs aus: „Man könnte die Vorteile beider Methoden vereinen“, meint er. „Kreuzlagenholz würde eine stabile Grundstruktur liefern, während man die jetzige Herangehensweise in wesentlich geringerem Umfang einsetzen könnte, um die Innenausstattung und Trennwände herzustellen.“

Wie Hills erläutert, sei das System zurzeit jedoch voll und ganz auf kleine häusliche Strukturen ausgerichtet. Nicht umsonst versprüht The Trampery on the Gantry ein Gefühl von Lebendigkeit und familiärer Harmonie, an dem auch der angrenzende technologische Innovationscampus nicht zu rütteln vermag. Das WikiHouse-Modell ist bewusst von einem bescheidenen und zugänglichen, gleichzeitig jedoch ansprechenden Design gekennzeichnet – Werte, die sich in der Außengestaltung der Ateliers widerspiegeln. „Wichtig für unser ,Wunderkammer‘-Konzept war das Prinzip der Vielfalt“, erinnert sich Hills. Gemeinsam mit seinen Kollegen verbrachte er mehrere Tage damit, anhand eines physischen Modells die Dachschrägen der einzelnen Ateliers zu gestalten und verschiedenste Alternativen für ihre Anordnung auf der Gerüststruktur auszuprobieren, um so einen möglichst ästhetischen Mix aus Pult-, Shed- sowie symmetrischen und asymmetrischen Satteldächern zu erzielen.

Daher überrascht es nicht, dass The Trampery on the Gantry auch in Sachen kreativer Raumplanung und künstlicher Gestaltung eine beispiellose Detailliebe und Sorgfalt an den Tag legt. In Anlehnung an die Stratford Jute Mill, eine im Jahr 1864 errichtete Jutespinnerei, verpasste das Team von Hawkins\Brown beispielsweise einem der Ateliers eine Fassade aus Metallplatten im Kreuzschaffur-Muster, das der Beschaffenheit der Jute nachempfunden ist. Zurzeit arbeitet das Team von WikiHouse an neuen Prototypen, die auch nach dem Zusammenbau jederzeit vollständig in ihre Einzelteile zerlegt werden können – die ideale Gelegenheit für The Trampery on the Gantry, neben weiteren Kapiteln der Vergangenheit zukünftig auch seiner eigenen Geschichte in Form neuer innovativer Modulbauten Tribut zu zollen.