Ein Autohaus als Smart-Home: Mercedes verbindet Mobilität und Wohnwelt in Japan
„Die Automobilbranche hat einen enormen Einfluss auf die moderne Architektur“, so der Architekt Ikuya Hanaoka. Er leitet die Advanced Design Group bei der Takenaka Corporation, einem globalen Architektur- und Planungsbüro mit Sitz im japanischen Osaka. Eins seiner neusten Projekte ist das EQ-Zukunfthaus von Mercedes in Tokio. Es wurde mit KI und BIM gebaut und funktioniert nun gleichzeitig als Smart Home und Garage für Elektro-Autos.
Das Bauwerk EQ-Haus entstand im Tokioter Roppongi-Viertel und soll Menschen und Architektur, Mobilität und Wohnraum miteinander verbinden. Das Wohnhaus kann individuell konfiguriert werden, es besticht mit Konnektivität und umfassender, integrierter Sensortechnologie.
Das zukunftsweisende Architekturprojekt gilt als Machbarkeitsnachweis und vereint Elemente der EQ-Elektromodelle von Mercedes-Benz und CASE, der Plattform für Intuitive Mobilität von Daimler. Ermöglicht wurde es aufgrund der stürmischen Entwicklung in den Technologiesegmenten Internet der Dinge (IoT) und Künstliche Intelligenz (KI), die das Verhältnis von Mobilität und Wohnen ganz neu definieren. Durch den Datenaustausch kann ein Elektrofahrzeug – gemeinsam mit den intelligenten Geräten der Hausbewohner – Bestandteil eines weitaus größeren Ökosystems sein.
„Wenn Mobilität in den Wohnbereich eingegliedert wird, ändert sich die Beziehung zwischen Drinnen und Draußen. Die Außenwelt betritt den Innenraum. So entstehen komplexe Lebensumgebungen, die herkömmliche architektonische Rahmenbedingungen sprengen“, erklärt Ikuya Hanaoka. Diese neuartige Architektur macht hochentwickelte IT-basierte Steuerungselemente und Schnittstellen erforderlich, die sich Lebensgewohnheiten „merken“ und das Wohnumfeld dadurch optimieren. „Da die Menschen nun Umgebungen verlangen, die ihren Bedürfnissen entsprechen, wird die Architektur der Zukunft immer individueller an persönliche Wünsche angepasst werden“, betont der Architekt.
Lichtdurchlässige Paneele lassen Sonnenlicht herein
Aktuell wird das EQ-Haus als Showroom genutzt, es ist aber trotzdem ein absolut bewohnbarer – und ästhetisch ansprechender – Raum. Die Tragwerkstruktur ist mit Paneelen verkleidet, wobei die einzelnen Paneele unter Berücksichtigung besonderer Konstruktionseffizienz per Laser zugeschnitten wurden. In jedem Paneel sind spezielle Ausschnitte so gestaltet, dass sie die optimale Menge natürliches Licht einfallen lassen und künstliches Licht streuen. In der gesamten Verkleidung gibt es etwa 1.200 dieser Ausschnitte mit über 1.000 individuellen Formen. Insgesamt erzeugen sie den Effekt von Sonnenlicht, das im Wald durch das Blätterdach fällt.
Im EQ-Haus überschneiden sich Mobilität und Wohnraum in einer Art Tunnel. Im Zentrum des Gebäudes befindet sich eine Bedienoberfläche mit Glasfront, die Statusinformationen zu Haus und Fahrzeug anzeigt. Diese Daten werden durch Sensoren generiert, die Menschen in den Räumen erfassen, die Umgebungstemperatur überwachen und weitere Informationen verarbeiten. Außerdem werden Daten der intelligenten Geräte im Haus erhoben, z. B. von der Smartwatch des Hauseigentümers. Die Sensordaten werden durch das von der Takenaka Corporation entwickelte Building Communication System aggregiert und in der Cloud gespeichert.
KI empfiehlt bestes Baukonzept
Die Paneele in der Küche des EQ-Hauses wurden mit Hilfe eines genetischen Algorithmus konzipiert, der die optimalen Werte für Helligkeit, Lichtexposition und Fertigungskosten ermittelt. Bei der Planung und Realisierung wurde für viele Aspekte computergestützte Planung eingesetzt. In der Planungsphase setzte man auf multivariate Optimierung (unter Berücksichtigung unterschiedlicher Variablen wie Komfort, Nachhaltigkeit und Kosten), um Tageslichtgewinnung, Wärmeausbreitung und Effizienz abzuwägen. Anschließend wurden mittels eines genetischen Algorithmus Varianten des besten empfohlenen Konzepts generiert.
Für die eigentliche Struktur wurden Träger aus Flachstahl beidseitig mit Aluminium-Paneelen verkleidet, um sie den Blicken zu entziehen. Dafür wurde eine ideale Anordnung errechnet, mit der sich die Anzahl der Stützbalken verringern und ihre Installation in schwierig zugänglichen Bereichen vermeiden ließ.
Sensoren im ganzen Haus schaffen fließende Übergänge zwischen Informationsinfrastruktur und Gebäudefläche, gleichzeitig erzeugen sie eine Fülle von Informationen: Eine Wetterstation misst nicht nur Windrichtung und Windgeschwindigkeit, sondern auch Niederschlag, Luftdruck und Sonneneinstrahlung. Weitere Daten werden mittels multifunktionaler Sensoren erhoben, die Oberflächentemperaturen, Kohlendioxidgehalt und die Anwesenheit von Menschen erfassen. Wieder andere Daten gibt es von Smartwatches und Smartphones, Stromzählern, magnetischen Tür-Sensoren, Klimaanlagen, Kameras zur Helligkeitsmessung und Bildanalyse, Mikrofonen für die Spracherkennung sowie Messkomponenten für das Laden und Entladen von Akkus und Solaranlagen.
Die erfassten Daten werden durch ein KI-System ausgewertet, das Steuerungsinformationen ans Building Communication System sendet. Dieser Vorgang wiederholt sich in einer Feedbackschleife kontinuierlich. Das Transparenzniveau gläserner Wände lässt sich per elektronischer Steuerung regeln: Bei sonnigem Wetter werden sie zu Milchglas, oder sie zeigen sich z. B. nur dann transparent, wenn eine Person im Raum ist. Die Schlafzimmerwände sind mit einer dimmbaren Beschichtung versehen, die sich je nach Bedarf bzw. Tageszeit anpassen lässt.
„Das Gebäude kommuniziert mit seinen Bewohnern und lernt ihre Vorlieben und Abneigungen kennen. Es ist ein lebendiges, atmendes Wohnhaus, das mit seinen Bewohnern koexistiert“, erzählt Ikuya Hanaoka. Diesen Architekturstil, der ein unbelebtes Gebäude quasi zum Leben erweckt, bezeichnet er als „Archiphilia“: Ein unbelebtes Gebäude fühlt sich für uns Menschen so an, als sei es zum Leben erwacht. Dieses Zuhause reagiert auf die Stimmen und die Bewegungen seiner Bewohner; es wacht über ihr Fahrzeug, ihre Bequemlichkeit und ihren Energieverbrauch; und es steht in einem Datenaustausch mit anderen Geräten.“
BIM und Mixed Reality machten Bau und Planung effektiver
Während des gesamten Planungs- und Bauprozesses für das EQ-Haus arbeitete man mit BIM (Building Information Modeling)-Daten. Sie wurden mit Autodesk Revit erstellt und ergänzen 3D-Modelle durch Projektmanagement-Daten wie z. B. Zeit- und Arbeitsaufwand sowie Materialkosten. Dabei erhielten Paneele und andere Komponenten in der Darstellung unterschiedliche Farben, die ihre Reihenfolge im Konstruktionsprozess verdeutlichten. Die Daten aus der Planungsphase wurden außerdem zum Laserschnitt der Aluminiumpaneele genutzt. Jedes Paneel verfügte über einen eindeutigen QR-Ident-Code, dessen Daten per Smartphone verwaltet werden konnten. Bei der Montage der Paneele an der Unterkonstruktion kam Mixed Reality (MR) zum Einsatz: Ein Arbeiter scannte einfach den QR-Code eines Paneels und konnte sich dann über ein HoloLens-Gerät von Microsoft den exakten Montageort und die zugehörige Arbeitsanweisung anzeigen lassen. Beim Einscannen der QR-Codes wurde jedes Bauteil gleichzeitig protokolliert und mit einem Zeitstempel versehen, um den Arbeitsfortschritt zu dokumentieren.
Auch bei den Aufgaben für Bauanträge und Bauabnahme spielten BIM-Daten eine entscheidende Rolle. Durch den Einsatz von Autodesk BIM 360 konnten Zeichnungen, Dokumente und Modelle effizient weitergeleitet, verwaltet, geprüft und genehmigt werden. Die Takenaka Corporation gab BIM-Daten für Vorprüfungen frei, bei der Realisierung des EQ-Hauses wurden sie auch für Prüfungen während der Bauausführung und der Endabnahmen genutzt. Die BIM-Daten aus Revit wurden in ein MR-System geladen, das mittels Microsoft HoloLens-Display und Tablet 3D-Modelle anzeigt. So konnten sich Prüfer die Planungsdaten vor Ort als Einblendung anzeigen lassen.
Bei der Endabnahme wurden gesetzlich vorgeschriebene Komponenten (wie z. B. Rauchmelder) und Unterflur-Systeme vor Ort als MR-Einblendung angezeigt. „Das war wirklich praktisch, denn so konnten wir Richtlinien für die effektive Reichweite jedes Rauchmelders in den Räumlichkeiten anzeigen“, erläutert Ikuya Hanaoka. „Und weil wir Bereiche wie Unterflurlüftungen darstellen konnten, die normalerweise nicht zugänglich sind, verliefen unsere Arbeiten reibungslos.“ Übermittelt wurden die Ergebnisse an das Building Centre of Japan (BCJ), die japanische Bauaufsichtsbehörde.
„Mit jeder Besucherin und jedem Besucher lernt das EQ-Haus dazu und entwickelt sich weiter“, berichtet Ikuya Hanaoka. „Das befördert gleichzeitig die Beziehung zwischen Mobilität und Wohnwelt. Ich glaube, dass Mobilität und Wohnumfeld bald integriert sein werden. So erweitert sich die Außenwelt zum Wohnraum und wir gewinnen das Potential für neue Erfahrungen und einen völlig neuen Lebensstil.“