Moderne Brücken: Mehr als eine Überquerung
- Mit Brücken überwinden Menschen seit jeher Hindernisse in der Landschaft. Moderne multifunktionale Brückenentwürfe eröffnen neue Nutzungspotenziale, sodass Brücken gleichzeitig hochwertige Aufenthaltsräume für die Menschen vor Ort sein können
- Der Einsatz von Building Information Modeling (BIM) optimiert Brückenentwürfe für zukünftige Szenarien
- Architekten und Ingenieure können dank neuer datengestützter Ansätze bessere Lösungen für die Auswirkungen von Erdbeben und die Instandhaltung von Brücken über deren Lebenszyklus entwickeln
Viele Brücken weltweit sind echte Wahrzeichen: die Golden Gate Bridge in San Francisco, die Brooklyn Bridge in New York City, die Tower Bridge in London, das Viadukt von Millau und der Pont du Gard in Südfrankreich, die Yongji-Brücke im chinesischen Chengyang und natürlich die Rialtobrücke in Venedig. Aber kennen Sie auch Brücken, auf denen es ein Amphitheater, ein Café, einen Park mit Picknickplätzen, Wasserfälle oder interaktive Kunstinstallationen gibt?
Dass moderne Brücken mehr sein können als eine Verbindung zwischen zwei Orten über ein Hindernis, ist jedenfalls längst bewiesen. Bestes Beispiel: der preisgekrönte Entwurf von OMA + OLIN für den 11th Street Bridge Park in der US-amerikanischen Hauptstadt Washington D. C. Er lässt erahnen, wie die Brückenkonstruktionen der Zukunft aussehen können. Ob es sich bei dem innovativen Bauwerk nun eher um einen Park oder eine Brücke handelt, kann jeder nach der geplanten Fertigstellung 2025 selbst erkunden. Fest steht, dass moderne Brücken nicht nur technisch und optisch beeindrucken, sondern neben der Bereitstellung wichtiger Verkehrsinfrastrukturen auch vielfältige weitere urbane Funktionen übernehmen können.
Die 11th Street Park Bridge in Washington D. C. wird den Stadtteil Capitol Hill und die Viertel am Ostufer des Anacostia River verbinden. Für den Autoverkehr ist sie gesperrt. Der unter der Federführung von Projektleiter Scott Kratz entstehende Brückenbau soll nicht nur dem Fußgängerverkehr dienen, sondern gleichzeitig Inspirations- und Begegnungsort für Menschen sein.
„Der Bridge Park konzentriert sich auf die Bedürfnisse der örtlichen Bevölkerung, die bei der Planung intensiv einbezogen wurde. Das Projekt ist ein vorbildliches Beispiel dafür, wie der öffentliche und der private Sektor gemeinsam und auf Augenhöhe Freiräume mit einer ausgezeichneten Aufenthaltsqualität entwickeln können“, freut sich Kratz.
Dabei ist die 11th Street Bridge zwar nicht die erste multifunktionale Brücke der Welt und vielleicht nicht ganz so aufsehenerregend wie das Auge von Tianjin – ein 120 Meter hohes Riesenrad auf der Yongle-Brücke über den Fluss Hai im chinesischen Tianjin. Dafür ist sie ein zukunftsweisendes gemeinschaftsorientiertes Projekt mit positiver Ausstrahlung ins Quartier, das Menschen zusammenbringt.
Eine moderne Brücke ist mehr als eine Verbindung zwischen zwei Orten
Um die zukünftigen Entwicklungen dieser wahren Königsdisziplin des Ingenieurbaus zu verstehen, lohnt sich eine Betrachtung der bisherigen Errungenschaften des Brückenbaus. Die 1883 fertiggestellte Brooklyn Bridge steht stellvertretend für viele andere Brückenbauten, die zu den größten ingenieurtechnischen Leistungen in diesem prägenden Jahrhundert zählen. Mit ihrer für die damalige Zeit unglaublichen Spannweite wurde die Hängebrücke wie auch die später errichtete Golden Gate Bridge zum Sinnbild des modernen Ingenieurbaus.
Dabei überragten die Türme der Brooklyn Bridge damals noch fast alle anderen Gebäude in New York, mit Ausnahme des Kirchturms der neugotischen Trinity Church. Für die Hängebrücke kamen erstmalig Tragseile aus Stahl zum Einsatz – eine für die damalige Zeit revolutionäre Technologie. Neben weiteren wichtigen Infrastrukturbauten, die im 19. Jahrhundert zur Erschließung des riesigen Landes umgesetzt wurden, war die Brooklyn Bridge ein wichtiger Garant für den wirtschaftlichen Erfolg der Vereinigten Staaten im 20. Jahrhundert. Diese Brücke hielt das Land im wahrsten Sinne des Wortes zusammen und verschob die Grenzen der Vorstellungskraft darüber, was Brücken leisten können.
In letzter Zeit standen Brücken allerdings vor allem wegen des allgegenwärtigen Sanierungsstaus im Zentrum der Aufmerksamkeit. Viele von ihnen sind mindestens baufällig, wenn sie nicht bereits statische Mängel aufweisen. Darunter leidet die Mobilität. Dabei ist die Verkehrsinfrastruktur von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung, denn jede Beeinträchtigung dieser Anlagen hat unmittelbare Auswirkungen, die die Menschen und die Unternehmen in Form eines wahren Dominoeffekts zu spüren bekommen.
Im Ernstfall sind Verkehrssysteme sogar lebenswichtig. Das gilt insbesondere für Brücken, denn sie ermöglichen eine schnelle Personenrettung und Gefahrenabwehr. Über Brücken gelangen verletzte Personen schnell in das nächste Krankenhaus, technisches Personal zu beschädigten Strom- oder Trinkwasseranlagen und nicht zuletzt Lebensmittel und Wasser in Regionen, die von der Grundversorgung abgeschnitten sind. Bei einem Erdbeben oder anderen Naturkatastrophen müssen Verkehrssysteme unbedingt funktionstüchtig bleiben oder schnellstmöglich wiederhergestellt werden.
Moderne ingenieurtechnische Methoden für die modernen Brücken der Zukunft
Aus den Erfahrungen der Vergangenheit wissen wir, dass Erdbebenschäden an Straßen, Brücken, Tunneln und Stützwänden erhebliche Auswirkungen auf den Verkehr haben. Solche Schäden behindern nicht nur die die Arbeit der Notfall- und Rettungsteams nach einem Erdbeben, sondern beeinträchtigen auch noch lange danach die Wirtschaft der betroffenen Region. Mit nachträglichen Maßnahmen kann die Erdbebensicherheit zwar erhöht werden, allerdings waren die ingenieurtechnischen Lösungen der traditionellen Erdbebenbemessung in ihren Möglichkeiten in der Vergangenheit häufig durch wirtschaftliche oder haushaltspolitische Gründe begrenzt.
Mit der Entwicklung der modernen Philosophie des verhaltensbasierten Erdbebeningenieurwesens (Performance-Based Earthquake Engineering – PBEE) und geeigneten Verfahren für Visualisierung, Simulation und Analyse sind Bauingenieure heute in der Lage, die Auswirkungen von seismischen und anderen Ereignissen holistisch zu betrachten und auch Aspekte wie Schadensbegrenzung und Funktionstüchtigkeit bei zukünftigen Infrastrukturprojekten maßgeblich zu berücksichtigen.
Zusätzlich werden innovative Planungsmethoden wie Building Information Modeling (BIM) zu immer besseren Baukonstruktionen führen. Eine beschädigte Brücke kann schwerwiegende Auswirkungen auf eine Region haben. Auch wenn eine alte Brücke durch ein leistungsfähigeres Bauwerk ersetzt werden muss, leidet der Verkehr während der Baumaßnahmen unter teils unzumutbaren Umleitungen. Aber können Brücken vielleicht noch mehr? Können sie für neue Beziehungen und neue Formen des sozioökonomischen Wohlstands sorgen?
BIM setzt neue Maßstäbe im modernen Brückenbau
Wie kaum eine andere technologische Neuerung verändert BIM den konstruktiven Ingenieurbau. Die Methode ermöglicht insbesondere auch die Planung und den Bau immer komplexerer Brücken. Durch den Einsatz hochdetaillierter dreidimensionaler Bauwerksmodelle erhalten Ingenieure und Planer einen besseren Einblick und können nicht nur die Planung und die Ausführung von Brücken beschleunigen, sondern auch die Verwaltung der Verkehrsinfrastruktur ganz allgemein optimieren.
Mit BIM sind alle Prozesse vollständig digital. Manuelle Überarbeitungen von Entwürfen oder Dokumenten gehören der Vergangenheit an. So kann die Planung um 40 % und die Ausführung um 30 % beschleunigt werden. Zusätzlich kann der Einsatz der Modelle für die digitale Fertigung die Fertigungszeit der Bauteile um 20 % verkürzen. Dadurch eröffnen sich neue Chancen, denn tausende Bestandsbrücken warten nicht nur auf ihre bloße Ertüchtigung. Sie können bei ihrer Sanierung auch umgestaltet werden und in ihrem neuen Leben mehr sein als Bindeglieder des Verkehrs.
Jemand der die Vorteile von BIM aus erster Hand kennt, ist Timothy Armbrecht. Der Tragwerksplaner arbeitet für das Verkehrsministerium des US-amerikanischen Bundesstaates Illinois und ist Mitglied des Fachausschusses für Software und Technologie (T-19) im Unterausschuss für Brücken und andere Bauwerke des Berufsverbandes American Association of State Highway and Transportation Officials. „Bei BIM wird ein Modell nicht nur inmitten seiner tatsächlichen Umgebung dargestellt, sondern wir können Anpassungen schnell und mühelos vornehmen, sodass Auftraggeber und Träger öffentlicher Belange diese Schritte sofort nachvollziehen können“, so Armbrecht. Zum Teil seien Änderungen der Entwürfe noch während einer öffentlichen Besprechung möglich.
Neben der 11th Street Park Bridge in Washington, die auf den Pfeilern der alten Brücke ruhen wird, macht auch die unter dem Namen „Bridge of the People“ bekannte und ebenfalls für den Kraftfahrzeugverkehr gesperrte Brücke Tilikum Crossing im US-amerikanischen Bundesstaat Oregon deutlich, dass moderne Brücken immer raffinierter werden.
Prozesse, mit denen potenzielle Probleme für urbane Infrastrukturen erkannt, analysiert und sogar vorhergesagt werden können, werden in Zukunft sehr wertvoll sein. Dies gilt beispielsweise für die Simulation von Erdbeben und die damit verbundenen Auswirkungen. Sobald die künftigen Entwurfsparameter bekannt sind, wird der Einsatz von BIM dabei helfen, Entwurfsalternativen für moderne Brücken und smarte Straßen zu entwickeln. Durch Berücksichtigung dieser Parameter können auch die Wirtschaftlichkeit und die Ausführungszeiten der Projekte optimiert werden.
Die innovative Konstruktion der vor 139 Jahren erbauten Brooklyn Bridge war zu ihrer Zeit bahnbrechend und ist auch heute noch beeindruckend. Die Grenzen des konstruktiven Ingenieurbaus werden sich jedoch weiter verschieben und moderne Brücken werden zusätzliche Funktionen übernehmen, deren Integration die Ingenieure der Zukunft beschäftigen wird.
Dieser Artikel wurde aktualisiert. Er wurde ursprünglich im September 2016 veröffentlicht.