Prothetik-Startup hilft Landarbeitern in Indien, zurück in ihr Handwerk zu finden
„Auf dem Prothesenmarkt klafft eine riesige Lücke“, sagt Abhit Kumar, Mitgründer des indischen Prothesen-Startups Social Hardware. „Diese Lücke wollen wir schließen und passende Prothesen für die Menschen bereitstellen, die sie am dringendsten benötigen, nämlich die Land- und Bauarbeiter im Hinterland Indiens, die sich die Hilfsmittel aufgrund ihres geringen Einkommens normalerweise nicht leisten können.“
Laut einem Bericht des indischen Ministeriums für Statistik und Programmimplementierung lebt ein Anteil von 2,21 Prozent der Menschen in Indien mit einer Behinderung. Von diesen Menschen, die überwiegend im ländlichen Raum zu Hause sind, haben 20 Prozent eine Bewegungsbehinderung. Die höchste Amputationsrate ist bei der Bevölkerung zu verzeichnen, die in diesen ländlichen Verhältnissen lebt und ihren Lebensunterhalt hauptsächlich in der Landwirtschaft oder im Bauwesen bestreitet. Dazu muss man wissen, dass Prothesen in Indien normalerweise aus dem Ausland importiert werden und die Kosten für diese Hilfsmittel schnell ein halbes Jahreseinkommen einer ländlichen indischen Familie übersteigen können.
Deswegen entschlossen sich die Mitgründer von Social Hardware Kumar und Cameron Norris dazu, neue Lösungen bei der Konstruktion von Armprothesen zu finden. Die beiden lernten sich über die Online-Community Reddit kennen, in der sie an einem Open-Source-Projekt zur Entwicklung einer Prothese für ein anderes Mitglied mitwirkten. Während Kumar einen Hintergrund in Biomedizin und Robotik hat, war Norris zuvor in der britischen Startup-Szene unterwegs.
Den richtigen Weg einschlagen
Als anerkanntes Startup im Rahmen der Initiative Startup India und technischer Partner des gemeinnützigen Behindertenverbandes Association of People with Disability (APD), der seinen Sitz im indischen Bengaluru hat, arbeitet das Unternehmen Social Hardware daran, Menschen mit Amputationen im ländlichen Indien mit Prothesen auszustatten und ihnen eine Rehabilitation zu ermöglichen. Die bedürftigen Menschen sollen diese Hilfen zudem kostenlos erhalten.
Im Rahmen der Partnerschaften mit der APD und anderen Rehabilitationsorganisationen für behinderte Menschen möchte Social Hardware dafür sorgen, dass Amputierte im ländlichen Raum Zugang zum Reha-Programm haben. Dabei würden die Betroffenen physiotherapeutische Unterstützung und Schulungen im alltäglichen Umgang mit dem Hilfsmittel erhalten. Das Startup möchte den Endkundenpreis für eine Handprothese auf umgerechnet 245 Euro begrenzen. Bedürftige, die das Programm erfolgreich absolvieren, werden kostenlos mit der Prothese von Social Hardware ausgestattet.
„Wir sprachen direkt mit Amputierten und Leuten, die beruflich mit Prothetik und Orthetik befasst sind. Dabei stellte sich heraus, dass die meisten Prothesen für Endnutzer im ländlichen Indien offenbar unbrauchbar sind“, erläutert Norris. „Die Unzufriedenheit ist häufig auf Probleme mit der Haltbarkeit und Hygiene zurückzuführen.“
Aus dem Handgelenk geschüttelt
Zuerst konstruierte Social Hardware eine geeignete Elektroprothese für Unterarmamputierte. Anschließend entwickelte das Team den sogenannten Avocado Wrist Connector, ein Hilfsmittel, an dem sich Handwerkzeuge für gärtnerische Zwecke oder handwerkliche Arbeiten sicher befestigen lassen. „Hinsichtlich der Robustheit haben wir uns an militärischen Ausstattungen orientiert“, erzählt Norris. „Dafür haben wir extra alte Patentschriften gewälzt. Wir wollten herausfinden, wie man dort ähnliche Hilfsmittel befestigt hat.“
Wichtig war dem Unternehmen auch, dass sich die prothetischen Produkte in die Lieferkette in Indien integrieren lassen, die von den Erzeugnissen des staatlichen indischen Prothesenhersteller ALIMCO dominiert wird. Besonderer Wert wurde auf die Kompatibilität mit dem vorhandenen Ankersystem der Verbinder und den Schäften gelegt. „Bestimmte Dinge gab es auf dem Prothesenmarkt bereits. Anstatt diese zu ersetzen, wollten wir die Produkte stärken und ergänzen“, erklärt Norris die wohlüberlegte Herangehensweise. „Wir dachten an eine Zusatzvorrichtung, die zwischen den bionischen Handersatz und den Prothesenschaft passt und an die verschiedene Werkzeuge angeschlossen werden können, wie ein kleiner Hammer, eine Maurerkelle oder ein anderes Werkzeug, das dem Betroffenen weiterhelfen könnte.“
Zuerst musste das Team allerdings einige Fragen in Bezug auf die vorhandenen Prothesentypen klären. Extern betriebene Gliedmaßenprothesen erfordern keinen körperlichen Kraftaufwand. Allerdings ist die Akkulaufzeit begrenzt und die erhältlichen Systeme lassen die für die Durchführung harter körperlicher Arbeiten nötige Robustheit vermissen. Dagegen sind körperbetriebene Prothesen im Allgemeinen viel langlebiger und erfordern keine Batterien. Andererseits weisen sie funktionelle Einschränkungen auf. Kumar und Norris wollten daher die Vorteile beider Typen kombinieren: eine Prothese, die leicht und funktional und dabei robust und zuverlässig ist. „Das Ziel war, das Beste aus beiden Optionen zu vereinen“, sagt Norris.
Damit dieser Balanceakt gelingen konnte, machte sich Social Hardware mit dem Generativen Design eine vielversprechende Technologie zunutze. Aufbauend auf den Maßen der traditionell gefertigten Schaftsysteme entwickelte das Team mithilfe von Autodesk Fusion 360 in einem fünfstufigen Generativen Design-Prozess den sogenannten Avocado Wrist Connector als praktisches Zwischenstück. Wie sich herausstellte, war das tatsächlich wie eine Avocado anmutende Verbinderteil der Durchbruch im Entwicklungsprozess. „Dank Generativem Design konnten wir das Gewicht der Komponente von 300 Gramm auf 96 Gramm reduzieren, ohne Abstriche bei der Belastbarkeit machen zu müssen“, ist Kumar zufrieden. „Mit den herkömmlichen Methoden hätte es Monate gedauert, bis wir eventuell nach viel Herumprobieren auf etwas Vergleichbares gekommen wären.“
Der generative Design-Ansatz war für Social Hardware auch hilfreich bei der Suche nach Lösungen für einige typische Probleme mit Prothesenschäften. Gleichzeitig wurde die Ästhetik der Prothese stark aufgewertet. Mit dem futuristisch-modischen Accessoire dürften sich viele Betroffene um einiges wohler fühlen. „Die Personen klagen in der Regel über Probleme mit Schweiß und Hitze. Das ist bei intensiven Arbeiten in feuchtwarmen Umgebungen natürlich sehr unangenehm“, weiß Norris. „Mit Generativem Design haben wir zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen und einen gut durchlüfteten, leichten Schaft mit einer einzigartigen Ästhetik entwickelt. Das Schöne daran ist, dass wir auch Menschen mit geringerem Einkommen das Gefühl geben können, Zugang zu modernsten Spitzentechnologien zu haben.“
Prothesen für alle
Kumar und Norris planen, den Prototyp schon bald für die breite Masse an Bedürftigen produzieren zu können. Im Moment bereiten sie sich auf die notwendigen klinischen Studien vor, damit ihr Produkt als medizinisch zertifizierte Prothese auf den Markt kommen kann. Weiter ist eine Zusammenarbeit mit internationalen Hilfs- und humanitären Organisationen geplant, um die Hilfsmittel auch an andere bedürftige Mitgliedstaaten der Asiatisch-Pazifischen Wirtschaftsgemeinschaft (APEC) zu liefern.
Darüber hinaus dachten die Gründer von Social Hardware auch daran, die Potenziale ihrer Produkte für die Stärkung der Bildung in den sogenannten MINT-Fächern zu nutzen und die erste kommerzielle Version ihrer Prothese als vorbestellbaren Prothesen-Entwicklungs-Baukasten bereitzustellen. Das Set soll alles enthalten, was Bastler, Forscher und Studierende benötigen, um eine Handprothese selbst herzustellen.
„Wir möchten das Set an den Markt bringen, um das Bewusstsein der betroffenen amputierten Menschen in den ländlichen Teilen Indiens für die Situation zu fördern und andere dazu zu ermutigen, sich an der Entwicklung assistiver Technologien zu beteiligen. Jungen Berufseinsteigern möchten wir damit helfen, die Grundlagen der konstruktiven Produktentwicklung und der Fertigung zu begreifen“, erklärt Kumar. „Schließlich steht das Projekt auch für unsere Leitprinzipien: frugale Innovation und partizipative Entwicklung.“