Vor uns die Sintflut: Digitale Lösungen für eine resiliente Wasserversorgung
- Die Aufräumarbeiten nach den Überflutungen in Westeuropa und China sind noch nicht abgeschlossen. Effektivere Maßnahmen zum Schutz der Wasserinfrastruktur vor zukünftigen Katastrophen sind alternativlos.
- Wenn vermeintliche Jahrhundertkatastrophen zur neuen Normalität gehören, sind herkömmliche Risikomanagement-Techniken den aktuellen und zukünftigen Problemen nicht mehr gewachsen.
- Die Digitalisierung von Wasserbetrieben ist eine unverzichtbare Voraussetzung für die Stärkung der Resilienz vorhandener und neu geplanter Anlagen.
Hochwasserkatastrophen in mehreren deutschen Bundesländern, westeuropäischen Nachbarländern und der chinesischen Provinz Henan forderten in diesem Sommer Hunderte von Menschenleben und richteten verheerende Schäden an. Die Wiederaufbauarbeiten sind längst nicht abgeschlossen, und – nicht nur – in den betroffenen Ortschaften sieht man der Zukunft bange entgegen. Welche Maßnahmen können Kommunen zum Schutz ihrer Infrastruktur gegen die extremen Wetterbedingungen ergreifen, die durch die Klimakrise mittlerweile zur neuen Normalität zählen?
Prof. Dr.-Ing. Lamia Messari-Becker vom Lehrgebiet Gebäudetechnologie und Bauphysik an der Universität Siegen hat sich als prominente Verfechterin kohärenter Lösungsansätze für Klimaschutz und Reduzierung des Hochwasserrisikos profiliert. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung kritisiert sie es als Versäumnis, dass „Bauen, Wohnen, Stadt- und Raumentwicklung noch immer nicht als ganzheitliche politische Gestaltungs- und Handlungsfelder gesehen“ werden: „Klimaanpassung, resiliente Infrastrukturen, Flächen- und Wassermanagement, vorbereitete Kommunen und Bewohner – all das kann Leben und Existenzen retten. Wir verfehlen aber fast alle baubezogenen politischen Ziele. Teils, weil sie fern jeglicher Lebensrealität der Menschen und Praxistauglichkeit definiert werden, oder weil sie schlicht nicht durch die richtigen Begleitmaßnahmen flankiert oder auch nicht vernetzt genug gedacht werden.“
Weitsichtige Ingenieurbüros und Baufirmen aus aller Welt arbeiten bereits an entsprechenden praxistauglichen Strategien, um zukünftigen Lebensrealitäten gerecht zu werden. Eine Priorität ist dabei die Stärkung der Resilienz und Nachhaltigkeit von Trinkwasserinfrastrukturen durch Nutzung digitaler Technologien.
Weltweit wird bei der Sanierung veralteter Anlagen zur Modernisierung der Wasserwirtschaft mit einer Kombination aus Gebäudedatenmodellierung (BIM) und Cloud-Technologie gearbeitet. Neben der Optimierung vorhandener Infrastrukturen sollen auch Neubauten, die speziell auf Resilienz gegenüber extremen Wetterbedingungen sowie auf nachhaltige Abwasseraufbereitung ausgelegt sind, zur Sicherung der Trink- und Nutzwasserversorgung im Katastrophenfall beitragen.
Hochwasserschutz durch Datenfluten
Bei Veolia Water Technologies, der für Anlagenbau und Rohrverlegung zuständigen Tochter des globalen Wasser- und Energiekonzerns Veolia, wird auf Hochtouren an der Entwicklung resilienter Trink- und Abwassersysteme gearbeitet. Dabei setzt man auf digitale und IoT-Technologien sowie prädiktive Analytik zur Unterstützung technischer Maßnahmen von der Hochwassermodellierung über die Planung nachhaltiger Kanalisationssysteme bis hin zu Ressourcenabgleichen und Notfallplänen für die Versorgung mit sauberem Trink- und Nutzwasser.
Die Modernisierung von Kläranlagen, künstlichen und natürlichen Wasserspeichern und Rohrleitungen kann Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Bis dahin ist durch ein besseres Risikomanagement zum Schutz der vorhandenen Infrastruktur viel gewonnen. Dabei unterstützt Veolia Versorgungsbetriebe durch Bereitstellung digitaler Lösungen.
„Überflutungen in Großstädten werden zumeist durch überlastete Kanalisationsnetze verursacht“, so Elise Le Vaillant von Veolia Water Technologies. „Bei länger anhaltendem Starkregen ist irgendwann der Punkt erreicht, an dem die Kapazitätsgrenze überschritten wird. Dann kommt als weiteres Problem hinzu, dass sich Regenwasser mit unbehandeltem Abwasser vermischt und aus den Gullys austritt. Dadurch verbreiten sich Bakterien und Krankheitserreger.“
Bei einem Besuch in Kopenhagen habe sie vor einigen Jahren aus erster Hand miterlebt, wie Wolkenbrüche die dänische Hauptstadt unter Wasser setzten. „Das löste damals eine Grundsatzdebatte über die Frage aus, ob es sich lohnt, wegen eines ungewöhnlichen Wetterereignisses, das sich wahrscheinlich nicht wiederholen würde, das ganze System zu erneuern.“
Ähnliche Abwägungen würden in unmittelbarer Zukunft in vielen Großstädten weltweit fällig, meint sie. Mindestens genauso wichtig wie die Planung für morgen sei es jedoch, die Resilienz und Nachhaltigkeit der heute vorhandenen Infrastruktur zu stärken.
Als Beispiel nennt sie die Analyse von Wetterdaten zur Früherkennung potenzieller Überflutungsrisiken: „Mit unseren Lösungen können wir punktgenau vorhersagen, wo es zu besonders heftigen Regenfällen kommen wird. Sensoren im Kanalisationsnetz geben uns Auskunft darüber, ob die Wasserspeicher in diesen Gefahrenzonen bereits voll sind bzw. kurz vor der Überfüllung stehen. Anhand dieser Daten können die zuständigen Wasserwerke dann entsprechende Maßnahmen zur Verhinderung von Überflutungen ergreifen.“
Technologische Unterstützung für Neubau- und Sanierungsprojekte
Bei der Entwicklung eigener Lösungen für die Wasserwirtschaft setzt Veolia Water Technologies auf leistungsstarke BIM-Technologien. An erster Stelle nennt der zuständige Beauftragte für CAD Tools und BIM, Sifdin Barkaoui, mehrere Autodesk-Lösungen – von BIM 360 und Revit über AutoCAD Plant 3D bis hin zu Navisworks, Recap und Inventor –, mit denen sein Team beim Erstellen und Verwalten von 3D-Modellen arbeitet.
Konkret berichtet Barkaoui von einem Mammutprojekt im Pariser Großraum, bei dem Revit und BIM 360 als wichtigste Plattformen für die Zusammenarbeit während der Bauphase dienten. Nach Abschluss des Projekts begann Veolia auf Wunsch des Bauherrn mit der Erstellung eines digitalen Zwillings auf der Grundlage einer openBIM-Datenstruktur.
Das Modell soll in Zukunft zur Vereinfachung von Wartungsaufgaben, Verbesserung der Sicherheit des Personals und Verringerung operativer Risiken beitragen, die die Leistung der Anlage beeinträchtigen könnten.
„Ein Riesenfortschritt im Vergleich zu den 2D-Zeichnungen, mit denen in manchen älteren Anlagen bis heute gearbeitet wird“, bekräftigt Barkaoui. „Mithilfe von BIM kann man beispielweise mit ein paar Klicks exakt vorhersagen, welche Konsequenzen es hat, wenn eine bestimmte Wasserleitung vorübergehend außer Betrieb genommen wird. Wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, ist das eine enorme Hilfe.“
Stärkung der Resilienz mithilfe von BIM und digitalen Zwillingen
Veolia unterstützt kommunale Versorgungsbetriebe bei der Planung zukunftsfähiger Anlagen für die Trinkwasserversorgung und Wasseraufbereitung. Auch hier habe BIM sich bewährt, wie Barkaoui berichtet.
Als Vorteil nennt er vor allem die bessere Kontrolle über Projektmanagement und Projektdaten. „BIM unterstützt uns in allen Phasen von der Entwurfsgestaltung und Werkstoffauswahl über die Verwaltung der Montage- und Bauarbeiten bis zur letztendlichen Abnahme durch den Bauherrn.“
Auch die Erstellung eines digitalen Zwillings, in den die während der verschiedenen Projektphasen erhobenen Daten eingepflegt werden, ist dank BIM mittlerweile zur Routine geworden. Nach Projektabschluss dient der digitale Zwilling als wichtiges Hilfsmittel zur Optimierung operativer Abläufe unter Berücksichtigung von Verlaufsdaten und aktuellen Umgebungsbedingungen.
Bei Sanierungsprojekten vertraut Veolia ebenfalls auf BIM. Die vorhandenen Anlagen werden mithilfe von 3D-Scannern dokumentiert, um Schwachstellen zu identifizieren.
Optimierung der Aufbereitung für die Bodenbewässerung im Agrarbereich
Im Süden Europas bringt die Klimakrise wieder andere Herausforderungen mit sich. Insbesondere müssen Kommunen im Mittelmeerraum sich auf Wassermangel aufgrund ausbleibender bzw. unberechenbarer Regenfälle und steigender Temperaturen einrichten. Mit Hubgrade stellt Veolia eine Plattform zur Überwachung der Energieeffizienz bereit, die die Aufbereitung von Wasser für die Bodenbewässerung im Agrarbereich auf 60 bis 70 Prozent optimieren kann. Höhere Werte werden derzeit nirgendwo in Europa erreicht.
Das Mailänder Unternehmen MilanoDepur setzt Software von Veolia zur Leistungsoptimierung des Klärwerks in Nosedo – mit einer Schmutzfracht von 1,25 Mio. Einwohnergleichwerten die größte Wasseraufbereitungsanlage der norditalienischen Stadt – ein. Im Vordergrund steht zum einen die Bereitstellung ausreichender Speicherkapazitäten bei extremen Regenfällen, zum anderen die Erhöhung des Anteils von aufbereitetem Wasser, der für die Landwirtschaft zur Verfügung steht. Durch Optimierung von Energieeffizienz und Chemikalienverbrauch wird zugleich die Umweltbilanz des Klärwerks verbessert.
„Ein Klärwerk kann man ja nicht einfach kaufen wie etwa eine Spülmaschine oder ein Handy“, so Le Vaillant. „Sondern im Vorfeld sind sorgfältige und entsprechend langwierige Planungsarbeiten erforderlich. Dank digitaler Technologien wie BIM geht manches allerdings schon deutlich schneller als früher. Mithilfe der Daten, die sie uns liefern, lassen sich einige der aktuellen Herausforderungen für Versorgungsbetriebe lösen.“
Wasser, Wasser überall
So sehr nach dem Ausbruch der Pandemie die Meinungen über die Wirksamkeit und Notwendigkeit verschiedener Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung auseinandergingen – in einem Punkt waren sich die medizinischen Experten und politischen Entscheidungsträger einig: Häufiges Händewaschen wurde allseits als wichtige und effektive Hygienemaßnahme gepredigt. Diese Ermahnung steht zugleich als Indikator für die elementare Bedeutung einer zuverlässigen Wasserversorgung für gesunde Bevölkerungen und funktionierende Gemeinwesen.
Überflutungen, Verunreinigungen des Trinkwassers und Wasserknappheit sind nicht die einzigen Herausforderungen, mit denen europäische Wasserbetriebe in der Gegenwart und nahen Zukunft zu kämpfen haben. Leistungsstarke Tools sind eine unabdingbare Voraussetzung für die erfolgreiche Bewältigung der Konsequenzen der sich verschärfenden Klimakrise.
Die weltweiten Kosten für die Stärkung der Resilienz und Flexibilität von Systemen und Anlagen zur Wassergewinnung, -aufbereitung, -speicherung und -verteilung werden bis 2030 auf umgerechnet 1,6 Bio. Euro geschätzt. Ein nicht geringfügiger Anteil dürfte auf die Anschaffung und Implementierung digitaler Lösungen entfallen.