Stadt der Zukunft: Wie sich Europas Metropolen für das Morgen wappnen
Die Stadt der Zukunft ist grün, digital und inklusiv. Die berühmten Pariser Champs-Élysées sollen einem Park weichen, Wien gilt schon längst als Smart-City-Vorreiterin, und auch deutsche Mittelstädte liebäugeln mit Zukunftsvisionen. Nur, wie setzt man sie um?
Anne Hidalgos Gegner sind die Autos. Sie möchte die Autos aus der Stadt haben, vor allem die Abgase. Kein Asphalt, sondern Wiesen und Bäume und jede Menge grüner Fassaden, und wenn schon mehrspurige Straßen, dann für Fahrradverkehr. Die Pariser Bürgermeisterin ist nicht die einzige Politikerin, die ihre Stadt begrünen will – gewollt wird viel angesichts des Klimawandels und den Zielen der EU, ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um mindestens 55 Prozent zu minimieren.
Immerhin hat die Sozialistin in den vergangenen Jahren einige Wege eingeleitet, um Paris einen Schritt näher in diese Richtung zu schubsen. Sie hat Fahrradwege bauen und ausbauen sowie Bäume pflanzen lassen, und zu Entwürfen inspiriert, wie der berühmte Prachtboulevard Champs-Élysées in einen Park verwandelt werden kann. Hidalgo plädiert für eine „15-Minuten-Stadt“, also dafür, dass Bewohner von ihrem Zuhause aus innerhalb einer Viertelstunde Schulen, Ärzte, Lebensmittelläden, Theater, Büros und Grünanlagen erreichen können.
Denkbar, dass Paris den Smog damit in eine Sackgasse treibt. Aber der Smog ist nicht das einzige Problem einer Stadt, die zu den dicht bewohntesten der Welt zählt. Paris‘ Mieten schießen bis an den Rand des Speckgürtels in horrende Höhen; bezahlbares Wohnen ist keine Selbstverständlichkeit, sondern Luxus. Das Dilemma lässt sich auf nahezu jede Metropole der Welt übertragen.
Verkehr nimmt zu, Plätze werden voller, Flächen knapp
Denn die Menschen ziehen weiter in die Städte, der Bedarf an Wohnraum wächst, der Verkehr nimmt zu, die Plätze werden voller, die Flächen knapp. Prognosen der UN zufolge werden im Jahr 2050 bis zu 70 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben – trotz Landsehnsucht und dem Wunsch nach Entschleunigung, zwei Bedürfnisse, die spätestens mit Beginn der Corona-Krise einen Schub bekommen haben.
Feststeht, dass sich etwas bewegen muss. Das tut es auch. Überall auf der Welt wird an Entwürfen für die Stadt der Zukunft getüftelt, und einige davon nehmen Dimensionen an, die in Science-Fiction-Filmen wie „Blade Runner“ oder „Das fünfte Element“ nicht besser umgesetzt sein könnten.
Der japanische Automobilhersteller Toyota plant mit dem dänischen Architekturbüro BIG eine Labor-Stadt am Fuß des Mount Fuji bei Tokio, mit Häusern im traditionell japanischen Holzbau, Fabrikation von Brennstoffzellen in einem untergründigen Tunnelsystem und Maschinen für den Abtransport von Müll.
Die Regierung Saudi-Arabiens will mitten in die Wüste die Planstadt „NEOM“ setzen, ohne Straßen, ohne Autos, alles öko. Schaut man nach China, entsteht in der Provinz Hebei ganz Ähnliches, die Stadt Xiong’an soll das nicht weit entfernte Peking entlasten und zu einer Art grünem Silicon Valley werden. Vergleichbares hatte Alphabets Tochterfirma Sidewalk Labs in Toronto, Kanada, verfolgt. Das Vorhaben liegt derzeit allerdings auf Eis.
Abgesehen von diesen milliardenschweren Megaprojekten experimentiert auch Europa an Konzepten für die Stadt der Zukunft. Stadtentwicklung ist politischer und öffentlichkeitswirksamer denn je. Nicht mehr allein die Grünen stehen für Klimaschutz und Energiesparmodus. In den Parteiprogrammen und Wahlkampagnen gehören Mobilität und Infrastruktur, sozialer Wohnungsbau und Digitalisierung zum Standardrepertoire.
Wien gilt als Modell für die Stadt der Zukunft
Paris ist nur ein Beispiel. Progressiv zeigt sich vor allem Österreichs Hauptstadt Wien, die sich selbst gern als Vorzeigeikone bezeichnet – und es in einigen Bereichen auch tatsächlich ist. Seit Jahren belegt Wien zuverlässig Platz eins der Mercer-Studie als lebenswerteste Stadt der Welt. Noch vor London führt sie außerdem den Smart City Index. Und das nicht nur, weil man hier auf Ökologie setzt.
Die Stadtplanung in Wien versucht, bei der Lebensqualität die unterschiedlichen Perspektiven der Menschen zu berücksichtigen. Gender Planning nennt sich das und Eva Kail setzt sich als Stadtplanerin seit über 30 Jahren dafür ein. „Im Grunde wurden ja die meisten Städte für Männer geplant”, sagt sie. „Straßen, Verkehrsführung, Wohnräume – letztlich orientiert sich vieles am Modell des Ernährers, der mit dem Auto morgens zur Arbeit fährt und abends wieder zurückkommt. Das unmittelbare Wohnumfeld berücksichtigte wenig die Lebensrealität der Personen, die mit der Haus- und Erziehungsarbeit betreut waren.” Doch genau das ändert Gender Planning: Barrierefreiheit, eine angepasste Ampelschaltung sowie Parkanlagen und Kitas, die gut zu Fuß erreicht werden können.
Bei der Smart City landet man zwangsläufig, wenn sich die Frage nach der Stadt der Zukunft stellt. Grün, ressourcenschonend, sozial inklusiv soll sie sein, und um dahin zu kommen, setzen Städte auf technische Innovationen, digitale Methoden und intelligent vernetzte Systeme und versprechen sich davon optimierte Infrastruktur, Logistik und lebenswerte und umweltfreundliche öffentliche wie private Räume.
So hat vor kurzem die Stadt Oslo die Autodesk-Technologie Spacemaker genutzt, um eines der wichtigsten Entwicklungsprojekte der Stadt zu planen. Spacemaker ist eine KI-basierte Software, welche für ein Grundstück mit Hilfe von Generativem Design die optimale Bebauung berechnet. Berücksichtigt werden Parameter wie Wind, Sonneneinstrahlung, Abstandsflächen, Lärm oder Regenwasser. Mit dieser Lösung soll mehr und besserer Wohnraum geschaffen werden.
In Oslo reduzierte man so Wohnareale mit dem geringsten Tageslichteinfall um 51 % und die lautesten Wohnbereiche um 10 %. Statt aufwendig händischer Arbeit konnten die Planer mit der KI-Kompetenz mehrere Tage einsparen. Zudem ist mit Spacemaker eine nachhaltigere Planung möglich:
„In der frühen Phase, das heißt in der Planung und im Design, ist die Wirkung, die man auf Nachhaltigkeit haben kann, signifikant. In dieser Phase sind die Kosten für Veränderungen gering, im Gegensatz zu Nachrüstungen in den späteren Phasen – im Bau und im Betrieb –, wo die Kosten hoch sind“, so der Gründer von Spacemaker Håvard Haukeland.
Neben Oslo ist auch die Stadt Wien ein Vorreiter in Sachen Stadt der Zukunft. „Wien befasst sich bereits seit zehn Jahren mit Strategien für die Zukunft“, sagt Florian Woller, Experte der Smart City Agency von Urban Innovation, einem Think Tank, der die globalen Trends und Entwicklungen in Wien und anderen Metropolen beobachtet und analysiert. „Schon damals hat die Stadt eine Vision festgelegt, wo sie bis 2030 und 2050 stehen will. Die erste Rahmenstrategie von 2014 wurde seitdem aktualisiert, um weitere Maßstäbe zu setzen“, so Woller.
Smart City: Intelligente Ampeln und erneuerbare Energien aus Klärschlamm
So sollen beispielsweise die CO2-Emissionen des Verkehrssektors pro Kopf um 50 Prozent bis 2030 und um 100 Prozent bis 2050 gesenkt, Bauteile und Materialien von Abrissgebäuden und Großumbauten bis 2050 zu 80 Prozent wiederverwendet oder -verwertet werden. Das sind nur zwei Beispiele für eine ganze Horde weiterer Zahlen. Auf Papier lässt sich eine Agenda immer gut ausfächern, die eigentliche Arbeit ist, das Beschriebene umzusetzen. In Wien verteilen sich über das ganze Stadtgebiet hinweg Projekte zu Elektromobilität, erneuerbaren Energien aus Klärschlamm, Zwischen- und Mehrfachnutzungen und intelligenten Ampeln für verbesserten Verkehrsfluss.
Jochen Rabe, Professor für Urbane Resilienz und Digitalisierung an der TU Berlin, weist darauf hin, dass zu häufig mit Pilotprojekten gearbeitet würde, von denen wir uns „neue Normalzustände zu erregen erhoffen“. Oft würde dabei aber vergessen, wie die Projekte sich auf andere Gebiete oder Städte übertragen ließen. Es gehe darum, sich zu vernetzen und auszutauschen und das Projekt nach seiner Testphase nicht ins Leere laufen zu lassen.
Das von der EU geförderte Projekt „Smarter Together“ zielt auf eine solche Vernetzung ab. Wien, München und Lyon wurden hierfür als Städtekonsortium auserkoren und haben ganze Stadtviertel zur Testblase für neue Technologien und Infrastrukturen verwandelt. Als sogenannte Nachfolge- und Beobachterstädte sind Sofia, Venedig, Santiago de Compostela sowie Kiew und Yokohama in Japan am Geschehen beteiligt. Der Münchner Projektleiter Bernhard Klassen bezeichnet diese Verzweigung als „Schneeballsystem“: Der nächste Schritt sei es, Stadtteile und Städte zu finden, in denen die getesteten Lösungen umgesetzt werden können.
Die Stadt der Zukunft auch in Klein- und Mittelstädten
Dass vor allem Metropolen die Leuchttürme und Vorzeigemodelle sind, hat seine Gründe. In Ballungszentren sitzen die großen Unternehmen, sie sind Wirtschaftsstandorte und Magneten für Wissenschaft und Forschung, hier bündeln sich Netzwerke, die neue Entwicklungen vorantreiben. Doch längst rücken auch Klein- und Mittelstädte in den Fokus des Interesses. Ulm, Kaiserslautern und Gera gehörten 2019 zu 13 Modellprojekten der nationalen Dialogplattform Smart Cities des Bundesministeriums des Innern, für Bau und Heimat.
Bis 2022 sollen in Kaiserslautern auf einem ehemaligen Fabrikgelände des Nähmaschinenherstellers Georg Michael Pfaff klimaneutrale Quartiere entstehen. Das Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme begleitet das sogenannte „Enstadt: Pfaff-Reallabor“ wissenschaftlich. Und auch im unscheinbaren Lemgo in Nordrhein-Westfalen wurde mit einem ähnlichen Ansatz in Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut IOSB an der Mittelstadt der Zukunft experimentiert. „Es geht darum, den Nachteil, den eine Kleinstadt strukturell hat, in einen Vorteil zu verwandeln“, sagt Jürgen Jasperneite, Professor für Computernetzwerke an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe und Leiter des Instituts.
Um eine Alternative zu den Großstädten zu bieten, sie zu entlasten, sollten die kleinen Kommunen also nicht in der Zeit stehen bleiben. Die Konzepte hier unterscheiden sich nicht wesentlich von denen, die München, Lyon und Wien mit der „Smarter Together“-Initiative in ihre Stadtviertel auslagern. Und wenn Paris‘ Bürgermeisterin Anne Hidalgo eine „15-Minuten-Stadt“ bewirbt, meint sie damit autarke Stadtviertel, die im Grunde wie Dörfer und Kleinstädte funktionieren. Am Ende dienen alle Projekte demselben Zweck, egal ob sie in kleinen nordrhein-westfälischen Kommunen, europäischen Metropolen oder gigantomanischen Planstädten realisiert werden: Erkenntnisse müssen vernetzt werden und Lösungen global adaptierbar sein.