Neurodiversität fördern: Die innovative Extended-Reality-Plattform swyvl
- Neurodiverse Menschen stoßen in Umgebungen, die hauptsächlich für neurotypische Menschen konzipiert sind, häufig auf Herausforderungen. swyvl zielt darauf ab, durch immersive Technologien Verständnis und Empathie zu fördern.
- swyvl ist eine Extended-Reality-Plattform (XR-Plattform) in der Pre-Seed-Phase, die Szenarien bietet, um die Welt aus der Sicht neurodiverser Menschen zu erleben. Diese Erfahrungen sind über VR-Headsets, Laptops, Mobilgeräte und Fernseher zugänglich.
- Das Geschäftsmodell von swyvl beinhaltet sowohl Inhalte für die breite Öffentlichkeit als auch eine gezielte Ansprache von Dienstleistern im Bereich der psychischen Gesundheit, um die Plattform in deren Praxen zu integrieren
Während des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts wurden hart erkämpfte rechtliche und kulturelle Errungenschaften im Bereich der Inklusion erzielt. Das Ergebnis davon: Bei der Bekämpfung von Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der Ethnie, Sexualität oder Religion konnten große Erfolge erzielt werden, auch wenn diese noch immer nicht vollständig beseitigt werden konnten. Doch eine andere, kaum beachtete – geschweige denn anerkannte – Form der Differenzierung betrifft die Erfahrungen neurodivergenter Menschen in Umgebungen, die von und für neurotypische Personen geschaffen wurden.
Der CEO von swyvl, Philipp Wolf, nennt als Beispiel eine mitarbeitende Person, die sich durch den ständigen Lärm im Großraumbüro gestört fühlt. „Sie fragt an, ob sie einen Kopfhörer tragen darf – aber weil ein Kopfhörerverbot im Büro gilt, wird diese Anfrage abgelehnt“, erklärt der ehemalige Leiter für visuelle Effekte (VFX) in der Unterhaltungsbranche.
Mitarbeitende können Personen, die sich durch Licht, Lärm oder die Intensität der eigenen Gefühle bei einer Meinungsäußerung vor Kollegen gestört fühlen, für eingebildet oder verwöhnt halten. Wolf selbst wurden schon Arroganz und Unhöflichkeit vorgeworfen, weil er anderen Menschen im Gespräch nicht in die Augen schaue.
Allerdings können diese Personen – wie Wolf selbst – schlicht neurodivers sein. Der swyvl-Chef hat Schwierigkeiten bei der Einhaltung der sozialen Konvention, Menschen in die Augen zu schauen – andere Personen können bei flackerndem Licht oder Bürolärm Konzentrationsprobleme erleben.
Wenn man solchen Bedenken neurodivergenter Menschen Rechnung tragen würde, anstatt sie zu ignorieren, ließe sich der Arbeitsplatz für alle verbessern. „Rollstuhlgerechte Gebäude helfen z. B. nicht nur Rollstuhlfahrenden, sondern auch Personen, die etwas Schweres tragen oder einen Kinderwagen schieben“, so Wolf.
Durch die Bereitschaft, die Neurodiversität von Mitarbeitenden anzuerkennen und ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, kann ein Unternehmen auch erhebliche Kosten sparen. Laut einem Bericht der schottischen Regierung aus dem Jahr 2018 könnte die Nichtinklusion von neurodiversen Personen zu einem jährlichen Kostenaufwand von 2,2 Milliarden Pfund (2,6 Milliarden Euro) führen – davon 42 % durch Produktivitätsverluste. Hochgerechnet auf die globale Wirtschaft schätzt swyvl die finanzielle Belastung durch solche Produktivitätsverluste auf bis zu 194 Milliarden US-Dollar (177 Milliarden Euro) im Jahr.
Wie ist das möglich? Als Beispiel nennt Wolf sich wieder selbst. Für ihn sei es unerträglich, mit dem Rücken zum offenen Raum zu sitzen. Wenn er so sitzen müsse, seien 30-40 % seiner mentalen Kraft mit dieser Unannehmlichkeit beschäftigt. Wegen solcher Kraftverluste würden neurodiverse Menschen oft als weniger leistungsfähig angesehen. „Bei Menschen wie mir nehmen Effizienz und Produktivität ab, wenn wir uns in Situationen befinden, die Neurodiversität nicht unterstützen“, erklärt er. Inklusive Arbeitsplatzgestaltung könnte solche Situationen erleichtern und neurodiversen Mitarbeitenden dabei helfen, ihr Potenzial zu realisieren.
Neurodiverse Erfahrungen in die Welt gebracht
swyvl wurde ins Leben gerufen, um diesen Herausforderungen zu begegnen. Die XR-Lernplattform soll Empathie fördern, indem sie eine Erfahrung der Welt aus neurodivergenter Perspektive ermöglicht.
Der Schwerpunkt der Plattform liegt bei kurzen Inhalten, die Benutzende über eine Webschnittstelle oder ein VR-Headset konsumieren. Gezeigt werden Alltagsszenarien wie der Schulbesuch, eine Trainingseinheit im Fitnessstudio oder Haushaltsarbeiten. Dabei werden die visuellen, akustischen und sensorischen Erfahrungen der Umgebung und Handlungen aus der Perspektive einer neurodivergenten Person dargestellt.
Dazu gibt es eine Reihe professionell gestalteter, branchenspezifischer Begleitseminare, die alle in Zusammenarbeit mit einer Verhaltensforscherin erstellt wurden. „Es handelt sich um ein Lernmittel“, erläutert Wolf. „Es wird den Menschen helfen, etwas über verschieden erlebte Erfahrungen zu lernen, was Empathie schafft und hoffentlich dazu beiträgt, Lücken im Verständnis von Neurodiversität zu schließen oder Fehlwahrnehmungen zu minimieren.“
Es sollen zunehmend mehr Szenarien bereitgestellt werden, um besser zu vermitteln, wie neurodivergente Menschen die Welt wahrnehmen und um das Verständnis dafür zu fördern. Die Eltern eines Kindes mit Autismus können zum Beispiel erfahren, wie ihr Kind den Spielplatz in der Mittagspause wahrnimmt. Führungskräfte im Büro können sehen, ob sie die Lichtverhältnisse ändern oder jemandem mit einer höheren Lärmempfindlichkeit einen ruhigeren Arbeitsplatz zuweisen sollten.
Wolf und die zwei anderen Gründungsmitglieder Katie Mitchell und Dr. Drea Letamendi haben vielfältige Einsatzmöglichkeiten für swyvl in der Gesellschaft und der Geschäftswelt erkannt. Die Plattform ermöglicht es nicht nur Familien, Schulen und neurodiversen Menschen selbst, ihre Sicht auf die Welt zu erleben und zu verstehen, sondern hilft auch Organisationen dabei, bessere Arbeitsplätze zu gestalten. Sie kann Gesundheitsfachkräfte darin schulen, wie unterschiedliche Menschen auf Behandlungen reagieren könnten, und sogar die Strafverfolgung und Gerichte im Umgang mit neurodiversen Personen unterstützen.
XR-Nutzungs- und Erstellungsmodelle
Entscheidend ist die Barrierefreiheit: Aus diesem Grund verhandeln Wolf und seine Partner auf der einen Seite direkt mit VR-Hardwareherstellern, um die Bereitstellung von swyvl als proprietäre App auf Geräten wie Meta Quest, Apple Vision Pro, Samsung VR oder HTC Vive zu ermöglichen. Auf der anderen Seite ist die Simulationsplattform auch für eine Nutzung auf Laptops, Mobilgeräten oder Fernsehern ausgelegt.
Um eine vertiefte Immersion zu realisieren, gehen die Partner weiter als die meisten anderen Software-Firmen und expandieren in den Hardwarebereich. Zu den Technologien, die eine Erweiterung der Erfahrungen aus der Augmented Reality (AR) oder auch der virtuellen Realität (VR) bis in die Extended Reality (XR) erlauben, zählen Elektroenzephalogramme (EEG), die Hirnaktivität aufzeichnen, sowie tragbare haptische Geräte, die Handlungen innerhalb einer Erfahrung simulieren und anpassen können. So ist es etwa mit einem haptischen Handschuh möglich, Form und Druck der eigenen Hand gegen einen in einer XR-Umgebung gepflückten Apfel zu spüren.
Das Team möchte diesen Bereich weiter erforschen, da er ein zentraler Bestandteil der immersiven Erfahrung war, die Katie Mitchell im Rahmen ihrer Masterarbeit an der Universität erschuf. Die Barrierefreiheit bleibt jedoch entscheidend, und Wolf schätzt solche Hardwaregeräte als besser geeignet für Schulungen im Unternehmensbereich oder auf dem Gebiet der psychischen Gesundheit als für eine Benutzung durch die breite Öffentlichkeit.
Hardwaregeräte können zwar das Erlebnis für manche verbessern, aber für swyvl liegt der eigentliche Clou in den Szenarien, Clips und Filmen in verschiedenen Längen, die den Benutzenden quasi am eigenen Leib zeigen, wie es ist, als neurodivergente Person mit der Welt zu interagieren. Der filmische Charakter dieser Inhalte kann auch auf Wolfs Hintergrund zurückgeführt werden. Als ehemaliger Leiter für visuelle Effekte (VFX) in der Unterhaltungsindustrie kennt er die Herausforderungen und Chancen der XR-Inhalte sowohl aus kreativer Sicht als auch hinsichtlich der Produktivität, inklusive Workflow-Pipelines, Liefermechanismen und Asset-Management.
Das Team verwendet Autodesk Flow Production Tracking für die Verwaltung und Planung von Dreharbeiten sowie die Terminplanung für Personal und Arbeitsabläufe. Die Szenarien werden in 360-Grad-Stereo in sehr hoher Qualität gefilmt. Die Gestaltung einer realitätsgetreuen Bild- und Tonqualität erfolgt dann auf der Grundlage von Erkenntnissen aus der Neurowissenschaften sowie der Verhaltensforschung während der Nachbearbeitungs- bzw. Schnittphase in Autodesk Maya.
„Durch die Darstellung des 3D-Raums können wir die Daten aus dem Bild abrufen“, sagt der swyvl-Chef. „Einzelne Objekte und Elemente können dabei leicht ausgewählt werden.“ Er gibt dabei das Beispiel einer Leuchtstofflampe an der Decke: „Wenn sie als Punktwolke im 3D-Raum existiert, können wir erst Maya benutzen, um ein 3D-Modell daraus zu erstellen. Danach können wir dieses Modell verzerren, indem wir z. B. das Licht größer, heller oder schneller flackernd einstellen.“
Das letzte Teil des Software-Puzzles ist Autodesk Fusion: Das Programm wird verwendet, um Hardwaregeräte wie die haptische Weste von swyvl zu entwerfen und entwickeln.
Zu den spannendsten Elementen der Simulationsplattform werden die privaten, von Benutzenden generierten Inhalte gehören, die erst entstehen, wenn neurodiverse Menschen, ihre Eltern oder ihre Angehörigen ihr Zuhause, ihre Schule, ihren Arbeitsplatz oder auch andere Umgebungen aus ihrer eigenen Perspektive filmen. So entstehen die authentischsten Berichterstattungen über das Leben neurodivergenter Menschen.
Und weil nicht jeder ein professioneller Filmemacher oder Redakteur ist, wird Künstliche Intelligenz (KI) ein entscheidendes Werkzeug für nutzergenerierte Inhalte sein. „Wir können nicht über echte Immersion reden, ohne anzuerkennen, dass die Erfahrung jeder Person unterschiedlich ist“, erklärt Wolf. „Mit KI-Werkzeugen können Benutzende bei voller Kontrolle über die Privatsphäre ihre eigenen Szenarien erstellen. Man muss lediglich einige Anweisungen auf dem Mobilgerät befolgen und ein Video aufnehmen. Danach erstellen die KI-Tools ein maßgeschneidertes, immersives Szenario.“
Durch das konstante Wachstum der Szenarien-Bibliothek werden Entwickelnden und Lizenznehmenden mehr Inhalte zur Bewertung und Gestaltung von u. a. Wohn- und Stadträumen, Computerspielen oder Unterhaltungsinhalten zur Verfügung stehen. Dabei wird wiederum das Verständnis für die Barrierefreiheit bei neurodivergenten Menschen erweitert.
Ein vielfältiges Angebot
Bei dem für swyvl geplanten Geschäftsmodell handelt es sich um ein mehrstufiges Produktangebot. Wolf möchte der breiten Öffentlichkeit die Inhalte auf der Plattform möglichst kostenlos anbieten. „Wir können uns ja nicht für die Barrierefreiheit einsetzen und dabei selbst nicht barrierefrei sein“, mahnt er an.
Ähnlich wie unternehmensweite Sicherheitsschulungen im Finanzbereich oder vorgeschriebene Hygieneschulungen in der Gastronomie könnten regelmäßige Weiterbildungen und Zertifizierungen für Organisationen oder Büros zum Thema Neurodiversität eine weitere swyvl-Dienstleistung darstellen. Wenn der jährliche Wiederholungskurs fällig ist, können Lizenznehmende branchen- oder bereichspezifische Beispiele wählen, die als Anhang bei den jeweiligen Seminarinhalten verfügbar sind.
Zu den wichtigsten Zielgruppen in der Geschäftswelt zählen allerdings vor allem Dienstleistungsanbieter im Bereich der psychischen Gesundheit. Der CEO plant, dass Psychologen oder Psychiater eine Lizenz für die praxisinterne Nutzung bzw. Verwertung von swyvl-Inhalten erwerben können und möchte Zertifizierungsschulungen anbieten.
Eine neurodiverse Zukunft
Obwohl swyvl sich noch in der Pre-Seed-Finzanzierungsphase befindet, ist die Firma nach einem kürzlich gewährten Zuschuss nun in der Lage, in den nächsten Monaten einen Prototypen zu bauen. Ende 2024 startet dann die Plattform mit zunächst zehn Szenarien. Laut swyvl haben schon sieben Forbes-Top-1000-Unternehmen Interesse gezeigt.
Die kanadische Firma rechnet mit einer riesigen Geschäftsmöglichkeit. Noch wichtiger ist jedoch, dass swyvl eine große Chance erkannt hat, das Thema psychische Gesundheit zu entstigmatisieren und neurodiversen Menschen zu ermöglichen, ihr gesamtes Potenzial zugunsten des Unternehmens, der Wirtschaft und der Welt einzubringen.
Ein solcher Umbruch wäre für alle gut. Wie Wolf sagt: „Blickt man in der Geschichte zurück, so sieht man, dass schon einige der größten Denker – z. B. Albert Einstein oder Nikola Tesla – höchstwahrscheinlich neurodiverse Menschen waren.”