Was ist Augmented Reality – Bindeglied zwischen Architektur, Ingenieur- und Bauwesen
- Augmented Reality (AR) wird das Arbeiten, Lernen, Spielen und Einkaufen verändern und eröffnet uns völlig neue Möglichkeiten zur Erschließung unserer Umgebung
- Besonders für Architektur, Ingenieur- und Bauwesen ergeben sich aus der Integration digitaler 3D-Modelle in die reale Baustellenumgebung große Chancen
- AR ist nicht nur während des Planungs- und Bauprozesses von Nutzen. Die Technologie wird sich auch während der Betriebs- und Instandhaltungsphase als wertvoll erweisen
Der Architektur kommt seit jeher eine Sonderstellung unter den Künsten und Wissenschaften zu. Die kreativ-künstlerisch geprägte Disziplin ist gleichzeitig dazu erkoren, konkrete bewohnbare Räume zu schaffen und eine erlebbare Umwelt hervorzubringen, die alle Sinne anspricht. Bei ihrem buchstäblichen Schöpfungsakt setzen Architekten neben Zeichnungen, Skizzen, statischen Renderings und Videoanimationen inzwischen auch auf das Medium Augmented Reality (AR). Großen Anteil an dieser innovativen Technologie hatten ursprünglich führende Spieleentwickler, die damit revolutionäre Spielumgebungen schufen. Längst haben jedoch auch Planende und Bauunternehmen erkannt, das Augmented Reality wie kaum eine Technologie dafür geschaffen ist, allen Beteiligten die Vision des Entwerfenden klar zu vermitteln.
Was ist Augmented Reality und was kann AR in der Architektur?
AR ist ein interaktives Erlebnis, das die physische Welt der Nutzenden durch computergenerierte Inhalte erweitert und überlagert. In der Architektur ist AR die Überlagerung von digitalen dreidimensionalen Gebäude- oder Bauteilmodellen mit eingebetteten Daten auf realen Flächen. Mithilfe dieser häufig aus BIM-Daten (Building Information Modeling) abgeleiteten Modelle können Planende und andere am Bau Beteiligte, Tragwerke, Gebäudeausrüstungen, gestalterische Variablen, Oberflächen, Möbel und vieles mehr erkunden. Verwenden alle relevanten Gewerke, Auftragnehmenden und Subunternehmenden auf der Baustelle AR, bietet die Technologie ein unschätzbares Potenzial, um mit dem Bauentwurf in einer immersiven Umgebung zu experimentieren und so Konflikte und Fehler zu beheben, bevor sie in die Tat umgesetzt werden.
Als Hardware für AR kann eine spezielle Brille wie Microsoft HoloLens oder MagicLeap verwendet werden, die das Sichtfeld mit der hybriden digitalen Umgebung ausfüllt. Aber auch auf dem Bildschirm eines Tablets oder Smartphones lässt sich die hybride Umgebung darstellen. Mit HoloLens 2 können Fachleute Risiken frühzeitig erkennen und Entwürfe und Einbaubedingungen von der frühen Entwurfsphase bis zur Bauausführung validieren. Besonders leistungsstark wird AR mit Reality Capture und HoloBuilder. Die Plattform basiert auf photogrammetrischen Technologien und kann Fotomodelle von Baustellen erzeugen und 3D-Modelle aus Autodesk Revit oder anderen Tools integrieren.
XR = AR + VR + MR
Unter dem Überbegriff erweiterte Realität (XR) werden verschiedene Technologien zur Visualisierung von Modellen zusammengefasst: Augmented Reality (AR), Virtual Reality (VR) und Mixed Reality (MR). AR bietet den Nutzenden ergänzend zur realen Welt zusätzliche Einblicke und Daten, indem sie computerberechnete Elemente in reale Umgebungen integriert. Die dabei stattfindende Interaktion zwischen Nutzenden, der physischen Realität und dem digitalen Modell ist auf das Wesentliche reduziert. Als immersive Technologie, die gänzlich auf reale Bestandteile verzichtet, schafft Virtual Reality (VR) eine komplett computergenierte Umgebung, die mit Headset und Handsteuerungen erkundet werden kann. Mixed Reality (MR) definiert sich wiederum durch einen mittleren Grad der Immersion. Meist handelt es sich um AR-Umgebungen, die im Gegensatz zur klassischen AR aber eine intensivere Interaktion zwischen den realen und den simulierten Elementen zulassen.
Anfangs war AR vor allem finanzkräftigen Architektur-, Ingenieur- und Bauunternehmen vorbehalten, die es sich leisten konnten, stundenlang Revit-Modelle mit selbst erstellten 3D-Game-Engine-Modellen zu integrieren. Inzwischen wurde die Technologie liberalisiert, sodass auch kleine Unternehmen und sogar Einzelunternehmende die Möglichkeit haben, Daten projektbezogen in Echtzeit bereitzustellen und zu präsentieren. Dabei ist der Einsatz von AR in fast allen Bereichen des Planungs- und Bauprozesses interessant – vom Entwurf über die Bauausführung bis hin zum laufenden Betrieb und zur Instandhaltung.
6 Einsatzmöglichkeiten für AR in Architektur, Ingenieur- und Bauwesen
1. Projektierung
Für Architekten und Planende ist AR vor allem in den frühen Phasen des Entwurfs ein wertvolles Werkzeug, um mit Formen zu experimentieren und Auftraggebende und andere Beteiligte aktiv einzubeziehen. Die Technologie ermöglicht Laien ein Verständnis des Entwurfs: Funktion, Raumaufteilung, Ausrichtung auf dem Grundstück, die Ausblicke auf die Umgebung und die eingesetzten Materialien. AR eignet sich hervorragend für diesen Zweck, da so jeder das Objekt lange vor dem ersten Spatenstich begehen kann.
Für diese Art der Visualisierung von architektonischen Entwürfen gibt es inzwischen zahlreiche Apps – darunter ARki, entwickelt von der Architektin Sahar Fikouhi. ARki integriert Architekturmodelle und ganze 3D‑Modelle in reale Umgebungen und ist mit Revit und anderen Programmen kompatibel. Die App ist eines der robustesten Entwurfswerkzeuge mit AR-Technologie auf dem Markt und liefert dynamische Animationen von 3D-Modellen, die im realen Raum verankert sind. Anwendende können Gebäude skalieren, sie um einen Punkt drehen und in einer axonometrischen Explosionsansicht Schicht für Schicht auseinandernehmen. Die App bietet einen leistungsstarken Datensatz von Materialtexturen und integrierte Funktionen zur Schatten- und Lichtanalyse. Außerdem ist sie besser öffentlich zugänglich als viele andere Apps, sodass sich Modelle in sozialen Medien oder per E-Mail problemlos teilen lassen.
Diese Form der In-situ-Visualisierung ist nicht nur in der Architektur oder im Bauwesen nützlich. Auch in der Produktentwicklung oder der Fertigung können Anwendende dank Fusion 360 und AR-Tools von Apple die entworfenen Modelle in reale Umgebungen übertragen. Die Technologie beruht auf dem Dateiformat USDz für 3D-Modelle, das 3D- und AR-Inhalte auf iOS-Geräten anzeigt, ohne dass spezielle Apps heruntergeladen werden müssen.
Alle diese Visualisierungsarten basieren auf digitalen Zwillingen des entworfenen Produkts oder Bauwerks. Ein digitaler Zwilling ist ein virtuelles 3D-Modell, das im Gegensatz zu einer rein grafischen Darstellung des Objekts oder Bauwerks intelligente, dynamische Daten über seine eigenen Abmessungen, Materialeigenschaften, mechanischen Funktionen und Beziehungen zu anderen Elementen enthält. Je mehr Daten die einzelnen Modelle enthalten können, umso genauer wird die Simulation in der realen Umgebung. Ausgereifte AR-Technologien werden die Einsatzmöglichkeiten der Modelle enorm erweitern.
2. Zusammenarbeit in Echtzeit
Während der COVID-19-Pandemie sind wir alle zu Experten in Sachen Fernarbeit und Zusammenarbeit in Echtzeit geworden. AR ist eine weitere Technologie, die problemlos aus der Ferne gemeinsam genutzt werden kann. Bestes Beispiel dafür ist Virtualist, ein virtueller Online-Workspace für die Zusammenarbeit mit AR- und VR-Technologien. Virtualist ermöglicht Echtzeit-Zusammenarbeit und Fernunterstützung von Mitarbeitenden und Teammitgliedern und bringt alle in einer hybriden AR-Umgebung zusammen. Man stelle sich vor, die Projektleiterin ist gerade auf der Baustelle und befindet sich unter einem Heizungsrohr. Mit Virtualist auf einem Smartphone oder Tablet kann sie einen Teamkollegen virtuell hinzuziehen und ein 3D-Modell des Elektrokanals sehen, der in der nächsten Bauphase parallel zum Rohr verlaufen wird. In dieser Situation können der Avatar des virtuellen Teamkollegen und die Projektleiterin vor Ort die Modelle und die bereits errichteten Bauteile nach Bedarf markieren und mit Anmerkungen versehen.
Dieser virtuelle Besprechungsraum kann in allen Planungs- und Bauphasen eingesetzt werden, wenngleich einige AR-Plattformen auf die Optimierung der Zusammenarbeit während der Bauausführung spezialisiert sind. Ein Beispiel ist Fologram – ein Tool, mit dem die Nutzenden interaktive Modelle erstellen können, die sie Schritt für Schritt bei der Umsetzung in realen Umgebungen unterstützen. Als Schritt in Richtung Mixed Reality kann Fologram auch QR-Codes oder arUco Marker auf Papier verwenden, um Modelle im virtuellen Raum zu steuern. Bei Drahtgittermodellen geben diese Marker beispielsweise an, wie die Abmessungen für Schalungen zur Erstellung von Bauteilen zu ermitteln sind und wo jeder Mauerstein in einer komplexen Wand millimetergenau zu verbauen ist.
Mit dieser virtuellen Unterstützung hat das Team von Fologram zusammen mit Soomeen Hahm Design, Igor Pantic und Format Engineers den Steampunk Pavilion für die Tallinn Architecture Biennale 2019 geschaffen. Das anspruchsvoll anmutende Gebilde besteht aus individuell dampfgebogenen Brettern, die wie Seidenbänder geknotet und gewunden sind. Die Formgebung der einzelnen Holzbretter erfolgte unter Verwendung von Fologram mit entsprechenden AR-Brillen zur genauen Platzierung der formgebenden Schalungsteile für das Dampfbiegen.
3. Tiefbau
Mit AR können Schichten virtuell abgetragen werden, sodass Verborgenes sichtbar wird. Somit ist die Technologie prädestiniert für den Einsatz bei Tiefbauprojekten. Anstatt sich durch Unmengen von Plänen zu wühlen, die in den Kellern von Behörden lagern, können Bauunternehmen mit AR dynamische und hochauflösende Baugrundmodelle erstellen und den Einsatz von Aushubgeräten genau begleiten.
4. Schulungen
Im Zusammenhang mit Schulungen bietet die neue AR-Technologie die Möglichkeit, neuen Mitarbeitenden optimal anschauliche Anweisungen für die Ausführung potenziell gefährlicher Arbeiten zu geben, wodurch der Bedarf an örtlicher Beaufsichtigung sinkt. Wenn ganze Schulungsmodule in AR-Plattformen integriert werden, hätten die Ausführenden die Möglichkeit vorauseilend zu lernen – mit einem geringeren Risiko für Fehler oder Verletzungen als in der realen Arbeitsumgebung. Ganz allgemein könnte AR auch genutzt werden, um den am Bau Beteiligten und Planenden eine bessere Vorstellung vom Endprodukt zu verschaffen, sei es durch direkte Anleitungen in Form von Aufzählungspunkten oder einfach durch den ständigen Zugriff auf ein Bezugsmodell.
5. Bauüberwachung und Inspektion
Die AR-Technologie ist wie geschaffen für den Einsatz in der Bauüberwachung oder für Inspektionsaufgaben. Noch nie war es so einfach, die tatsächlich erbrachten Bauleistungen mit dem BIM-Modell abzugleichen und die laufende Dokumentation anhand von Fotos und durch virtuelle Vermerke an errichteten oder geplanten Bauteilen zu ergänzen. Dafür gibt es beispielsweise GAMMA AR. Mit dem Tool können Anwendende Elemente eines Modells isolieren oder ausblenden und mit Text, Bildern oder Sprachnotizen versehen. Es ist für Android oder iPhone verfügbar und bietet einige Funktionen, die auch offline funktionieren. In ähnlicher Weise können Anwendende von VisualLive unter anderem auch die Opazität in 3D-Modellen ändern, um durch bestimmte Bauteile hindurchsehen zu können. Um Modelle zu importieren, werden QR-Codes ausgedruckt, die an einer beliebigen ebenen oder vertikalen Oberfläche befestigt und dann gescannt werden, um Modelle hochzuladen und auszurichten.
6. Betrieb und Instandhaltung
Die Notwendigkeit, ein Bauwerk zu überwachen, endet nicht mit der Eröffnungsfeier. Auch in der Betriebs- und Instandhaltungsphase bietet sich der Einsatz der AR-Technologie an. Wird sie bei Inspektionen eingesetzt, kann sie einen Beitrag für eine nachhaltige Nutzung leisten. Anhand eines über die Jahre hinweg aktualisierbaren digitalen Modells entsteht ein umfassendes Bild davon, wie das Objekt zum Zeitpunkt seiner Inbetriebnahme funktionierte, und wie es sich im Laufe der Jahre verändert hat.
Was ist Augmented Reality auf der Baustelle
Mit AR können Planende und Bauunternehmen ihre Entwürfe als diskrete Datenschichten und reale Bauwerke betrachten und beliebig auflösen. So können beispielsweise Tragwerk, Kubatur, Haustechnik, HLK, Sicherheitssysteme oder IT-Systeme je nach Fragestellung auch isoliert betrachtet werden. Im Wesentlichen bietet die Technologie somit eine Art „Röntgenblick“, mit dem durch Wände hindurchgesehen werden kann. Durch Ein- und Ausblenden der verschiedenen Modelle können Tragwerk und Gebäudetechnik sehr differenziert betrachtet und Probleme noch vor Beginn der Bauausführung erkannt werden.
Aber das ist längst nicht alles. Wenn ein Problem erkannt wird und niemand vor Ort es beheben kann, lassen sich die nötigen Experten in eine hybride AR-Umgebung einbinden. Dort können ihre digitalen Avatare sich umsehen und Korrekturen anbringen. Besonders elegant: Auf einigen AR-Plattformen können Planungsänderungen direkt in der App vorgenommen und in ein dynamisches BIM-Modell übernommen werden. Dadurch lassen sich all diese Änderungen in einer visuell hochwertigen und klar abgegrenzten digitalen Umgebung auch solchen Personenkreisen vermitteln, die mit dem jeweiligen Gewerk nicht so gut vertraut sind – darunter beispielsweise Bauherren.
AR in Bauprojekten: Technologie mit Mehrwert
Im Kern ist AR ein Kommunikationsmittel. Die hybriden, immersiven Umgebungen machen den architektonischen Raum lesbar und leichter verständlich. Das gilt auch für die einzelnen Bauteile, aus denen der Raum besteht. Diese Vereinfachung der Kommunikation kommt sowohl den Mitarbeitenden zugute, die eine neue Bauweise erlernen sollen, als auch den Investoren, die von einem Entwurf erst noch überzeugt werden müssen. AR bringt ein Team, das in Wirklichkeit an verschiedenen Schreibtischen und Orten verstreut sein kann, in einer gemeinsamen, mit BIM-Daten angereicherten Baustellenumgebung zusammen.
Die Effizienz dieser revolutionären Art der Kommunikation drückt sich in Zeit- und Kostenersparnissen aus. Selbstverständlich ist es ein unschätzbarer Vorteil, wenn ein Entwurf auch noch sehr kurzfristig angepasst werden kann, bevor er in die Tat umgesetzt wird. Alle Baubeteiligten können 3D-Umgebungen dafür nutzen, Bauabläufe besser zu steuern. Ein interaktives Modell zeigt, wie lange die einzelnen Teilleistungen dauern werden, beispielsweise Aushub, Betonarbeiten, Montage von vorgefertigten HLK-Einheiten, Maurerarbeiten oder Dacharbeiten. Dadurch wird viel Zeit für die Koordinierung der Gewerke gespart. Diese Zeiteffizienz und höhere Materialgenauigkeiten führen am Ende zu nachhaltigeren Bauwerken.
Im Bauwesen sind zuletzt große Fortschritte bei der Anwendung von AR-Tools zu beobachten. Insbesondere bei der Durchführung von Inspektionen und bei der Erkennung von Baumängeln helfen sie den Planenden, frühzeitig gegenzusteuern. Bei aller Begeisterung gibt es jedoch auch noch einige Hürden. So sind die meisten AR-Funktionen vor Ort nur bei einem schnellen Internetzugriff über WLAN möglich, was nicht auf jeder Baustelle vorhanden ist. Außerdem erfordert ein hohes Maß an Immersion spezielle Hardwarekomponenten: Je mehr sich AR-Plattformen auf die Interaktion mit digitalen Modellen stützen und sich damit der MR annähern, desto öfter müssen spezielle Brillen wie HoloLens oder MagicLeap eingesetzt werden. Im Vergleich mit Anwendungen, die über das Smartphone laufen, erfordert diese Art von Hardware spezielle Schulungen und der Einsatz im Freien oder in hellen Umgebungen gestaltet sich schwieriger. Tablets und Smartphones sind zwar preiswerter und haben niedrigere Einstiegshürden, bieten aber nicht die gleiche Qualität der Immersion.
Dennoch zahlt sich der Einsatz von AR auch auf Endgeräten wie iPhones aus, weil mehr Informationen und Daten für mehr Menschen deutlich schneller verfügbar sind. Dank dieser Fortschritte bei der Dokumentation und digitaler Informationen sowie der Möglichkeit der Zusammenarbeit in Echtzeit war es noch nie so einfach nachzuvollziehen, was gebaut wird und wo es gebaut wird. Und auch wenn sich die Technologie noch nach Zukunftsmusik anhört, ist sie bereits Realität.
Dieser Artikel wurde aktualisiert. Er wurde ursprünglich im März 2014 veröffentlicht.