1. Projektierung
Für Architekten und Planende ist AR vor allem in den frühen Phasen des Entwurfs ein wertvolles Werkzeug, um mit Formen zu experimentieren und Auftraggebende und andere Beteiligte aktiv einzubeziehen. Die Technologie ermöglicht Laien ein Verständnis des Entwurfs: Funktion, Raumaufteilung, Ausrichtung auf dem Grundstück, die Ausblicke auf die Umgebung und die eingesetzten Materialien. AR eignet sich hervorragend für diesen Zweck, da so jeder das Objekt lange vor dem ersten Spatenstich begehen kann.
Für diese Art der Visualisierung von architektonischen Entwürfen gibt es inzwischen zahlreiche Apps – darunter ARki, entwickelt von der Architektin Sahar Fikouhi. ARki integriert Architekturmodelle und ganze 3D‑Modelle in reale Umgebungen und ist mit Revit und anderen Programmen kompatibel. Die App ist eines der robustesten Entwurfswerkzeuge mit AR-Technologie auf dem Markt und liefert dynamische Animationen von 3D-Modellen, die im realen Raum verankert sind. Anwendende können Gebäude skalieren, sie um einen Punkt drehen und in einer axonometrischen Explosionsansicht Schicht für Schicht auseinandernehmen. Die App bietet einen leistungsstarken Datensatz von Materialtexturen und integrierte Funktionen zur Schatten- und Lichtanalyse. Außerdem ist sie besser öffentlich zugänglich als viele andere Apps, sodass sich Modelle in sozialen Medien oder per E-Mail problemlos teilen lassen.
Diese Form der In-situ-Visualisierung ist nicht nur in der Architektur oder im Bauwesen nützlich. Auch in der Produktentwicklung oder der Fertigung können Anwendende dank Fusion 360 und AR-Tools von Apple die entworfenen Modelle in reale Umgebungen übertragen. Die Technologie beruht auf dem Dateiformat USDz für 3D-Modelle, das 3D- und AR-Inhalte auf iOS-Geräten anzeigt, ohne dass spezielle Apps heruntergeladen werden müssen.
Alle diese Visualisierungsarten basieren auf digitalen Zwillingen des entworfenen Produkts oder Bauwerks. Ein digitaler Zwilling ist ein virtuelles 3D-Modell, das im Gegensatz zu einer rein grafischen Darstellung des Objekts oder Bauwerks intelligente, dynamische Daten über seine eigenen Abmessungen, Materialeigenschaften, mechanischen Funktionen und Beziehungen zu anderen Elementen enthält. Je mehr Daten die einzelnen Modelle enthalten können, umso genauer wird die Simulation in der realen Umgebung. Ausgereifte AR-Technologien werden die Einsatzmöglichkeiten der Modelle enorm erweitern.
2. Zusammenarbeit in Echtzeit
Während der COVID-19-Pandemie sind wir alle zu Experten in Sachen Fernarbeit und Zusammenarbeit in Echtzeit geworden. AR ist eine weitere Technologie, die problemlos aus der Ferne gemeinsam genutzt werden kann. Bestes Beispiel dafür ist Virtualist, ein virtueller Online-Workspace für die Zusammenarbeit mit AR- und VR-Technologien. Virtualist ermöglicht Echtzeit-Zusammenarbeit und Fernunterstützung von Mitarbeitenden und Teammitgliedern und bringt alle in einer hybriden AR-Umgebung zusammen. Man stelle sich vor, die Projektleiterin ist gerade auf der Baustelle und befindet sich unter einem Heizungsrohr. Mit Virtualist auf einem Smartphone oder Tablet kann sie einen Teamkollegen virtuell hinzuziehen und ein 3D-Modell des Elektrokanals sehen, der in der nächsten Bauphase parallel zum Rohr verlaufen wird. In dieser Situation können der Avatar des virtuellen Teamkollegen und die Projektleiterin vor Ort die Modelle und die bereits errichteten Bauteile nach Bedarf markieren und mit Anmerkungen versehen.
Dieser virtuelle Besprechungsraum kann in allen Planungs- und Bauphasen eingesetzt werden, wenngleich einige AR-Plattformen auf die Optimierung der Zusammenarbeit während der Bauausführung spezialisiert sind. Ein Beispiel ist Fologram – ein Tool, mit dem die Nutzenden interaktive Modelle erstellen können, die sie Schritt für Schritt bei der Umsetzung in realen Umgebungen unterstützen. Als Schritt in Richtung Mixed Reality kann Fologram auch QR-Codes oder arUco Marker auf Papier verwenden, um Modelle im virtuellen Raum zu steuern. Bei Drahtgittermodellen geben diese Marker beispielsweise an, wie die Abmessungen für Schalungen zur Erstellung von Bauteilen zu ermitteln sind und wo jeder Mauerstein in einer komplexen Wand millimetergenau zu verbauen ist.
Mit dieser virtuellen Unterstützung hat das Team von Fologram zusammen mit Soomeen Hahm Design, Igor Pantic und Format Engineers den Steampunk Pavilion für die Tallinn Architecture Biennale 2019 geschaffen. Das anspruchsvoll anmutende Gebilde besteht aus individuell dampfgebogenen Brettern, die wie Seidenbänder geknotet und gewunden sind. Die Formgebung der einzelnen Holzbretter erfolgte unter Verwendung von Fologram mit entsprechenden AR-Brillen zur genauen Platzierung der formgebenden Schalungsteile für das Dampfbiegen.
3. Tiefbau
Mit AR können Schichten virtuell abgetragen werden, sodass Verborgenes sichtbar wird. Somit ist die Technologie prädestiniert für den Einsatz bei Tiefbauprojekten. Anstatt sich durch Unmengen von Plänen zu wühlen, die in den Kellern von Behörden lagern, können Bauunternehmen mit AR dynamische und hochauflösende Baugrundmodelle erstellen und den Einsatz von Aushubgeräten genau begleiten.
4. Schulungen
Im Zusammenhang mit Schulungen bietet die neue AR-Technologie die Möglichkeit, neuen Mitarbeitenden optimal anschauliche Anweisungen für die Ausführung potenziell gefährlicher Arbeiten zu geben, wodurch der Bedarf an örtlicher Beaufsichtigung sinkt. Wenn ganze Schulungsmodule in AR-Plattformen integriert werden, hätten die Ausführenden die Möglichkeit vorauseilend zu lernen – mit einem geringeren Risiko für Fehler oder Verletzungen als in der realen Arbeitsumgebung. Ganz allgemein könnte AR auch genutzt werden, um den am Bau Beteiligten und Planenden eine bessere Vorstellung vom Endprodukt zu verschaffen, sei es durch direkte Anleitungen in Form von Aufzählungspunkten oder einfach durch den ständigen Zugriff auf ein Bezugsmodell.