Kehrtwende in der Architektur: Wie krümmt sich Holz von selbst?
Normalerweise braucht es enorm viel Energie und schwere Maschinen, um Holz zu biegen. Jetzt entdeckten Wissenschaftler eine Möglichkeit, Holz auf natürliche Weise zu krümmen – mit Hilfe digitaler Werkzeuge können sie die Form im Vorfeld genau definieren. Das ermöglicht Architekten vollkommen neue sowie nachhaltigere Aussichten.
Schlank thront er auf einem kleinen Hügel inmitten von Feldern und Weinbergen. Der Urbach Turm entstand im Rahmen der Remstal Gartenschau 2019 und ist nun das markante Wahrzeichen der Gemeinde Urbach im Südwesten Deutschlands. Der Turm ist aber vor allem ein Manifest für die Zukunft der Architektur. Denn seine gebogene Holzfassade markiert eine Kehrtwende in der Holzverarbeitung: Statt aufwendige und energieintensive Umformverfahren zu nutzen, griffen die Baumeister des Turmes auf natürliche Kräfte zurück und ließen das Holz komplett selbstständig formen.
Auf die Idee kamen zwei Holzexperten: der Brite Dylan Wood vom Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) der Universität Stuttgart sowie der Schweizer Markus Rüggeberg der „Angewandten Holzforschung“ bei EMPA – einem Institut, das bereits Projekte in Holz am Schweizer Innovationsgebäude NEST verwirklichte. „Holz ist ein sehr nachhaltiges Material. Krümmt man es, ist es sogar leistungsfähiger als im ebenen Zustand“, so Dylan Wood. Die Wissenschaftler wollten ein Verformungsverfahren finden, das auf schwere Maschinen, aufwendigen Energieeinsatz und komplexe Umformungsprozesse verzichtet, um das Holz in der Architektur als nachhaltiges Material noch attraktiver zu machen.
Wie viel Holz, wie viel Feuchtigkeit? Computersimulationen können diese Fragen präzise beantworten
Auf die gleiche Weise wie Maschinen programmiert werden, um bestimmte Bewegungen auszuführen, kann auch Holz „programmiert“ werden, sodass es sich im Trocknungsprozess in bestimmte Richtungen verformt. Denn Computersimulationen erlauben es den Architekten, Bewegungen im Holz vorab am Rechner durchzuspielen – damit wissen sie genau, wie viel Material und Feuchtigkeit nötig ist, um eine bestimmte Form zu erzielen.
Kennt man die Daten – Materialdicke und Feuchtigkeitsgehalt –, kann der Verformungsprozess starten: Zuerst klebt man auf eine dickere feuchte Holzschicht eine dünnere trockene Schicht – und zwar quer zur Faser. Diese stabilisiert das Bauteil, da es sich bei dem Feuchtigkeitsverlust im Ofen nicht aktiv verändert. Nach dem Trocknungsprozess ist das Holz gebogen.
Wie reagiert das Holz bei Regen?
Die Herausforderung: Sobald das Holz wieder nass wird, beispielsweise durch Regen, verformt sich das Material. Um das zu verhindern, werden nach dem Trocknungsprozess mehrere Holzschichten übereinander verklebt. Das gibt dem Bauteil Stabilität.
Der Urbach Turm ist das erste Gebäude weltweit, das in diesem neuen Verfahren in großem Maßstab entstanden ist. Der Turm ist 14 Meter hoch, besteht aus zwölf Fichtenholz-Teilen und misst eine strukturelle Dicke von 90 Millimetern. „Die Geometrie ist so komplex, dass es ein BIM-Rendering des Turms brauchte, um alle Baubeteiligten abzuholen“, so Wood. Die Zeichnung nennt er „Kommunikationsmodell“, was insbesondere bei der Koordination und beim Aufbau vor Ort half – die vorgefertigten Holzteile wurden in gerade einmal einem Tag zusammengebaut.
Um zu sehen, wie das Holz auf die Feuchtigkeits- sowie Klimaveränderung am Turmstandort reagiert, beobachten die Wissenschaftlicher gemeinsam mit dem Schweizer Unternehmen ioLabs die Daten auf der Autodesk-Plattform Forge. Diese Erkenntnisse werden sicherlich nützlich sein für das nächste Projekt von Dylan Wood und seinem Team in der „Material Programming Research Group“: Sie planen einen ähnlichen Turm wie in Urbach – nur größer, auf den die Besucher hochklettern können.