Im Wettlauf gegen die Zeit – wie Ingenieure ihre Expertise im Prototypenbau nutzen, um Leben zu retten
Masken statt Sportwagen, Beatmungsgeräte statt Flugzeuge – Corona hat die Fertigungsbranche von heute auf morgen auf den Kopf gestellt. Die Not macht erfinderisch – das zeigen derzeit Ingenieure aus ganz Europa. Dabei spielt ihnen vor allem eins in die Karten: das Mindset und die Werkzeuge aus der Prototypenentwicklung.
Eigentlich produziert Lamborghini Supersportwagen. In diesen Tagen jedoch steht die Autoproduktion still. Der italienische Automobilhersteller aus dem Volkswagen-Konzern ist gerade damit beschäftigt, mit Hilfe der Experten aus der Sattlerei 1.000 Masken pro Tag für die benachbarte Poliklinik in Bologna herzustellen. Hinzu kommen täglich 200 medizinische Gesichtsschutz-Visiere aus Polycarbonat. Für die Produktion verwendet Lamborghini 3D-Drucker aus der Carbon-Fertigung sowie der Forschungs- und Entwicklungsabteilung – eben jenes Equipment, das eigentlich für die Prototypenentwicklung genutzt wird.
„Wir werden diesen Kampf gemeinsam gewinnen, indem wir gewerkschaftlich zusammenarbeiten und diejenigen unterstützen, die täglich an vorderster Front im Kampf gegen diese Pandemie stehen“, sagt Stefano Domenicali, CEO von Lamborghini. Als Zeichen des Zusammenhalts erleuchtet derzeit jede Nacht das Gebäude des historischen Lamborghini Werksgeländes in Norditalien in den Farben der italienischen Flagge.
Beispiel aus Großbritannien zeigt: Zusammenhalt wichtiger denn je
Zusammenhalt ist in Zeiten von Corona wichtiger denn je: Ärzte kontaktieren Hersteller, Anästhesisten beraten die Industrie, Mitbewerber kooperieren und Regierungen beauftragen Wirtschaftsunternehmen. So geschehen auch in Großbritannien. Dort kamen nach dem Aufruf der Politik Technologie- und Maschinenbauunternehmen aus der Luft- und Raumfahrt, der Automobilindustrie und der Medizin in einem Konsortium unter dem Namen „Ventilator Challenge UK“ zusammen, um in kürzester Zeit mehr als 10.000 Beatmungsgeräte für das staatliche Gesundheitssystem NHS herzustellen. Mit dabei sind Firmen wie Rolls-Royce, BAE Systems, Airbus, Siemens und GKN Aerospace.
„Dieses Konsortium bringt einige der innovativsten Unternehmen der Welt zusammen. Sie arbeiten mit unglaublicher Entschlossenheit und Energie, um die Produktion dringend benötigter Beatmungsgeräte zu erhöhen und ein Virus zu bekämpfen, das die Menschen in vielen Ländern in Atem hält. Ich bin zuversichtlich, dass dieses Konsortium über die Fähigkeiten und Werkzeuge verfügt, um Leben zu retten“, so Dick Elsy, Leiter der Challenge. Er gehört zum in Birmingham ansässigen Forschungszentrum „High Value Manufacturing Catapult“, das die Kompetenzen der Firmen derzeit zusammenbringt und die Challenge koordiniert.
Additive Fertigung wie bei Prototypen: „Der 3D-Druck hat uns gerettet“
Not macht erfinderisch. Das merkte auch das italienische 3D-Druck-Start-up „Isinnova“. Ursprünglich druckte das Unternehmen Ventile für handelsübliche Beatmungsmasken – als auch die Masken in den Kliniken rar wurden, kontaktierte ein ehemaliger Chefarzt das Start-up und hatte eine recht außergewöhnliche Idee: Man könnte doch die Schnorchel-Masken des Sportwarenhändlers Decathlon als Notfallmasken umbauen. Die Krankenhäuser bräuchten nur ein Anschluss-Ventil für das Beatmungsgerät, um die Schnorchel-Maske umzufunktionieren.
Isinnova kontaktierte Decathlon und bekam umgehend die CAD-Zeichnung der Schnorchel-Maske. Das Produkt wurde „zerlegt“ und untersucht, um den Anschluss an das Beatmungsgerät zu entwickeln. Die neue Komponente nennt Isinnova „Charlotte-Ventil“ – es konnte innerhalb von kürzester Zeit mit dem 3D-Drucker hergestellt werden. „Der 3D-Druck hat uns gerettet“, so Isinnova. Die Schnorchel-Maske mit dem Anschluss an das Beatmungsgerät wurde bereits in einem Krankenhaus in Chiari getestet – das neue Produkt ist voll funktionstüchtig.
„Wir haben uns entschlossen, die Datei für den 3D-Druck des Ventils frei zu teilen, sofern sie nicht kommerziell genutzt wird“, so Isinnova. Es gibt sogar ein YouTube-Video zur Anleitung. Und Decathlon hat den Verkauf der Schnorchel-Masken umgehend eingestellt, um sie ausschließlich medizinischen Zwecken zur Verfügung zu stellen. Für Unternehmen, die 3D-Drucker für die Produktion ihrer Prototypen besitzen, sollte es daher ein Leichtes sein, die Ventile herzustellen.
Seat baut Beatmungsgeräte für Corona-Patienten
Dass man während der Corona-Pandemie vor allem pragmatisch sein muss, weiß derzeit niemand besser als Seat-Produktionsvorstand Dr. Christian Vollmer, der in Spanien in drei Tagen die Fertigung umstellte. Vor wenigen Wochen – als die Produktion im Werk Martorell bei Barcelona aufgrund von Corona zum Stillstand kam – hat Produktionsvorstand Vollmer die Chefärztin des Seat-Gesundheitszentrums angeschrieben und sie gebeten, mal mit den umliegenden Krankenhäusern und Ärzten zu sprechen, was benötigt wird. Es fehlte an allem – an Schutzkleidung, Masken, Zubehörteilen für Beatmungsgeräte und natürlich an Beatmungsmaschinen selbst.
Vollmer formierte ein 15-köpfiges Kernteam, um via Videokonferenz und Internetrecherche herauszufinden, wie Seat helfen kann. Das Team fand das Start-up Protofy, das eine Bauanleitung für ein Beatmungsgerät kostenlos ins Internet stellte. Von da an dauerte es genau eine Woche, bis der erste Prototyp bei Seat gebaut wurde. Eine Montagelinie, auf der eigentlich das Fahrgestell für den Seat Leon produziert wird, wurde für die Herstellung von Beatmungsgeräten umfunktioniert. „Uns war es wichtig, eine Linie zu nehmen, die ergonomisch passt. Die Mitarbeiter sollen gesund bleiben und schon gar nicht plötzlich mit Rückenschmerzen ausfallen“, erklärt Vollmer die Entscheidung gegenüber Zeit Online.
Für die Umstellung einer Fertigungslinie, auf der von heute auf morgen statt Autos Beatmungsgeräte produziert werden, brauchen Ingenieure vor allem Kreativität und Enthusiasmus – alles Tugenden, die für die Prototypenentwicklung das A und O sind.
„Für den ersten Prototypen haben wir einen Fensterhebermotor verwendet, der überhitzt aber sehr schnell […] So ein Fenster öffnet man ja höchstens zwei, dreimal am Tag. Der Dauerbelastung hielt der Motor nicht stand. Dann hatte ein Kollege die Idee mit dem Scheibenwischermotor und den haben wir dann vereinfacht. Regensensor und Intervallbetrieb konnten wir ausbauen. Wir brauchten nur Geschwindigkeit und Robustheit. Die liefert der Scheibenwischermotor“, erzählt Vollmer. Andere Teile hat Seat dazugekauft oder einfliegen lassen.
Insgesamt haben 150 Mitarbeiter aus verschiedenen Abteilungen von Seat ihren gewohnten Arbeitsplatz umgestaltet und montieren nun Beatmungsgeräte. Drei Schichten bauen rund 300 Maschinen pro Tag. Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit. Vollmer ist im ständigen Austausch mit den Ärzten, Qualitätskontrollen finden täglich statt. „In so einem Großkonzern guckt jeder sehr stark auf den eigenen Bereich. Das ist jetzt plötzlich anders: Wie wir aus dieser Notsituation heraus aus einem Unternehmen ein Team gebildet haben, das für einige Wochen jedes Hickhack, jede Missgunst vergisst und nicht vor allem an eigene Erfolge denkt, ist eine wirklich tolle Erfahrung“, findet der Manager.
Die Geschichte von Seat und Lamborghini, Isinnova und Decathlon sowie des britischen Konsortiums der besten Ingenieure aus ganz Europa zeigen: Nur gemeinsam können wir diese außergewöhnliche Situation meistern.