WYSIWYG in der Fertigung: Echtbilddarstellung ist (fast) schon Realität
Erinnern Sie sich noch an die graue Vorzeit der elektronischen Datenverarbeitung, als es noch keine WYSIWYG-Editoren gab? Als Sie sich mit Dokumenten herumschlagen mussten, deren Bildschirmdarstellung bestenfalls entfernte Ähnlichkeiten mit der Version aufwies, die der Tintenstrahldrucker ausspuckte?
Noch ärgerlicher war es, wenn man sein Dokument professionell drucken und binden ließ, um dann feststellen zu müssen, dass die Formatierung vollkommen daneben gegangen war – eine ärgerliche Zeit- und Geldverschwendung!
Ein bisschen war es wie in dem Film „Und täglich grüßt das Murmeltier“, wo Bill Murray einen Mann spielt, dessen Radiowecker ihn immer wieder mit demselben Duett von Sonny & Cher weckt, woraufhin er immer wieder die gleichen qualvollen Szenen durchleben muss. Irgendwas lief jedes Mal falsch, und man musste immer wieder von vorne anfangen, eine Veränderung nach der anderen an seinem Dokument vornehmen und hoffen, dass Ist- und Sollzustand irgendwann doch noch in Übereinstimmung kommen würden.
WYSIWYG-Editoren wurden erfunden, um dieses Problem zu beheben. Nun konnte man sich endlich darauf verlassen, dass jedes Dokument so aus dem Drucker kommen würde, wie es auf dem Bildschirm dargestellt wurde – und zwar unabhängig davon, mit welcher Hardware man arbeitete (ob Mac oder PC, Tintenstrahl-, Laser-, Typenrad- oder Nadeldrucker).
Leider kann die Fertigung von diesem Zustand bislang nur träumen. Bei Spritzgussverfahren, 3D-Druck und Verbundwerkstoffen sind weiterhin mehrfache Iterationen und Prototypen erforderlich – das kostet Geld, Zeit und Nerven, die sich besser an anderer Stelle einsetzen ließen.
Stellen Sie sich einmal vor, was wäre, wenn man in der Arbeitsvorbereitung eines Fertigungsbetriebs tatsächlich nach dem Grundsatz „what you see is what you get“ arbeiten könnte: weniger Iterationen; massive Effizienzgewinne; Freisetzung von Ressourcen für mehr Innovation und Forschung, um Produkte entwerfen zu können, die nicht nur funktionieren, sondern begeistern.
Verspritzte Ressourcen
Vor zwanzig Jahren konnten Ingenieure mit Hilfe von Simulationen im Nachhinein feststellen, warum ein Entwurf für ein im Spritzgussverfahren hergestelltes Produkt nicht die erhofften Ergebnisse lieferte. Die erfolgreiche Erstellung eines funktionstüchtigen Entwurfs und Prototypen nach dem Prinzip „Versuch und Irrtum“ kostete viel wertvolle Zeit.
Man nehme zum Beispiel die Kunststoffkomponenten im Innenraum eines PKW. Auf dem Bildschirm kann der Entwurf noch so perfekt aussehen – wenn die für das Spritzgussverfahren errechneten Parameter wie Schmelztemperatur, Hohlraumdruck, Einspritz- und Abkühlungsgeschwindigkeit nicht stimmen, kommt es zu Spritzfehlern, die wiederum schwerwiegenden Verzug oder Schrumpfung verursachen können.
In der Spritzgusstechnik ist der Entwurf entscheidend für den Erfolg, und umgekehrt kann eine fehlerhafte Spritzgussform ohne weiteres Kosten in fünfstelliger Höhe verursachen – erst recht, wenn Sie nicht über eigene Produktionsanlagen verfügen.
Kostspielige Iterationen
In der additiven Fertigung ist der Traum von der Echtbilddarstellung noch schwieriger zu verwirklichen. Da sich die jeweils verwendeten Werkstoffe – von Kunststoff über Metall bis hin zu Zement – beim und nach dem Druckverfahren verformen, muss man mit entgegengesetzten Verformungswerten arbeiten, um ein Produkt zu erhalten, das auch nur einigermaßen der Bildschirmdarstellung entspricht.
Stellen Sie sich vor, Sie erstellen als Luftfahrtingenieur den Entwurf für ein Turbinenblatt, das im 3D-Druckverfahren aus einer Inconel-Legierung hergestellt werden soll. Sie könnten tage- oder gar wochenlang an Iterationen für Prototypen arbeiten, die pro Iteration fünfstellige Summen verschlingen. Da im additiven Verfahren in der Regel in Kleinserien produziert wird, sind derartige Kosten schwer aufzufangen. So kann es zum Beispiel sein, dass Sie zwanzig Teile drucken müssen, bevor sich die Iterationskosten rentieren, aber nur fünf Teile brauchen. Die flächendeckende Durchsetzung dieser revolutionären Fertigungstechnik scheitert bislang noch an ihrer Unberechenbarkeit.
Werkstoffspezifische Fertigungsverfahren
Die Herausforderungen, vor die 3D-Druck und Spritztechnik das WYSIWYG-Konzept stellen, sind nichts im Vergleich zur Verarbeitung von Verbundwerkstoffen, wo für jedes einzelne Fertigungserzeugnis ein eigenes Produktionsverfahren zur Anwendung kommt.
Verbundwerkstoffe aus Kohlenstofffasern zeichnen sich durch hohe Steifigkeit, Stärke und Stoßfestigkeit bei geringem Gewicht aus. Seit ihrer Verwendung beim Bau des Boeing 787 Dreamliner gelten sie als neue Wunderwerkstoffe. Der Flugzeugrumpf wurde hergestellt, indem Kohlenstofffasern wie Gewindeband in verschieden gerichteten Lagen um eine riesige Spindel gewickelt wurden.
In der Regel werden Verbundwerkstoffe aus Kohlenstofffäden hergestellt, die in verschiedenen Webarten – unidirektional oder multiaxial – in Harz eingelegt werden. Je nach Ausrichtung der einzelnen Lagen erhält man unterschiedliche Stärken und Verzugseigenschaften.
Diese Verfahren sind so komplex, dass nur wenige Experten über die erforderliche Fachkenntnis verfügen, um Simulationen mit Verbundwerkstoffen durchzuführen. Wenn jedoch ein Computer in der Lage wäre, für ein bestimmtes Projekt den richtigen Verbundwerkstoff mit den entsprechenden Leistungseigenschaften – wie beispielsweise Stärke und Gewicht – zu identifizieren, ließe sich der Kosten- und Zeitaufwand erheblich reduzieren. Erst recht, wenn der Computer Ihnen dann auch noch verraten könnte, welches Fertigungsverfahren Sie anwenden sollen bzw. welche Änderungen am Entwurf vorgenommen werden müssen, damit das fertige Teil haargenau den Anforderungen entspricht.
Raus aus der Endlosschleife
Autodesk arbeitet aktuell an der Entwicklung entsprechender Simulationsprogramme – Moldflow für die Spritzgusstechnik, Netfabb Simulation für die additive Fertigung und Helius PFA für Verbundwerkstoffe – zur Behebung des WYSIWYG-Mankos in der Fertigung.
Ziel ist dabei, Programme zu schreiben, die das Fertigungsverfahren sozusagen am Computer nachbilden, um Abweichungen des Endprodukts vom Entwurf sichtbar zu machen. Entspricht die Ist- nicht der Sollgeometrie, schlägt der Computer einen Lösungsweg vor, sodass es zu weniger Fehlern in der Planungsphase kommt und die Vorlaufzeiten bis zur Serienreife erheblich verkürzt werden.
Statt viel Zeit mit langwierigen Iterationen von Prototypen zu verlieren, könnten Sie Ihren Entwurf direkt in die Fertigung geben und sich darauf verlassen, dass das Endprodukt Ihre Anforderungen erfüllt. Unter gegenwärtigen Bedingungen würde niemand wagen, sofort in die Serienfertigung zu gehen. Wenn Sie jedoch mit Sicherheit wüssten, dass der erste Testlauf jedes Mal gelingt, könnten Sie sich immerhin mehrfache Iterationszyklen sparen. Und hätten damit mehr Zeit und Geld für die Forschung und Produktentwicklung zur Verfügung.
Die Möglichkeit, komplexe Fertigungsverfahren quasi in Echtbilddarstellung am Computer zu simulieren, wird einen ähnlich bahnbrechenden Effekt haben wie einst die Erfindung von WYSIWYG-Editoren in der elektronischen Textverarbeitung. Anstatt Ihren Entwurf zwanzigmal hin- und herzuschicken, bis das Ergebnis endlich Ihren Vorstellungen entspricht, brauchen Sie ihn bald nur noch ein- oder zweimal auszudrucken und können dann zur nächsten Fertigungsphase übergehen.
Wenn Ihnen momentan noch Sonny & Chers Duett „I Got You Babe“ im Kopf herumspukt, können Sie sich auf eine nicht allzu ferne Zukunft freuen, in der innovative WYSIWYG-Konzepte für die Fertigung Sie von diesem Ohrwurm befreien.