In Marokko steht ein Meisterwerk aus dem Nachlass von Zaha Hadid kurz vor der Fertigstellung
Die lang erwartete Fertigstellung des Grand Théâtre de Rabat am Ufer des Flusses Bou-Regreg soll noch in diesem Jahr die Skyline der marokkanischen Hauptstadt Rabat vollkommen verwandeln. Das Theater wird nach Plänen der 2016 verstorbenen Zaha Hadid und ihrer Firma Zaha Hadid Architects (ZHA) in enger Zusammenarbeit mit mehreren beratenden Architekten errichtet. Als erstes in einem afrikanischen Land realisiertes Bauwerk der Pritzker-gekrönten Architektin zählt es zu ihren letzten, aber womöglich auch bedeutendsten Projekten.
Hadid hat dem Entwurf ihren unverkennbaren Stempel aufgedrückt: wellenförmig geschwungene Linien und fließende Konturen, die so sehr dem angrenzenden Fluss wie der arabischen Kalligraphie nachempfunden sind. Neben dem Hauptsaal mit 1.800 Sitzen umfasst das Bauvorhaben auch eine als Amphitheater mit 7.000 Sitzen konzipierte Freilichtbühne, einen kleineren Saal, Räumlichkeiten für Workshops und ein Restaurant mit Panoramablick. Die Gestaltung des Hauptsaals, eine Referenz an die für die islamische Architektur so typischen Stalaktitengewölbe (Muqarnas), mutet zugleich futuristisch und traditionsbewusst an.
Das Bauvorhaben wurde im Rahmen eines staatlichen Kulturentwicklungsprogramms ausgeschrieben, mit dem König Mohammed VI. die bauliche Aufwertung des Flusstals in Rabat und der Nachbarstadt Salé am gegenüberliegenden Ufer des Bou-Regreg fördern will.
Nach den Vorstellungen des Monarchen soll der fertige Komplex als Herzstück eines dynamischen Stadtteils mit exklusiven Ladengeschäften, Restaurants, kulturellen Attraktionen und Freizeitaktivitäten fungieren, der sich harmonisch in das historische Stadtbild einfügt – ein ähnlich markantes Wahrzeichen wie das Sydney Opera House.
Hadid selbst war sich der Bedeutung des Bauvorhabens nur allzu gut bewusst. „Für mich ist es eine Ehre, einen Beitrag zur kulturellen Entwicklung der marokkanischen Hauptstadt zu leisten“, betonte sie 2010 anlässlich der Auftragsvergabe und verwies auf die „einzigartigen musikalischen Traditionen und große Theatergeschichte“ des Landes.
Hadids Planungsteam sah seine Aufgabe zum einen darin, dem Gebäude ein möglichst naturalistisches Aussehen zu verleihen und eine Architektur zu schaffen, die quasi als intuitives Besucherleitsystem fungiert. Aufgrund der Lage in einem Erdbebengebiet ergaben sich zudem statische Herausforderungen. Reda Kessanti, Leitender Planer bei ZHA, erläutert: „Das Theater ist als strukturell voneinander getrennte Außen- und Innenschachtel gebaut. Die Betonfassade wird durch ein Netz aus Stahlrippen und -trägern gestützt, das die ungewöhnliche Form des Gebäudes umspannt. Die Gebäudehülle ersteht aus dem oberen Teil des Amphitheaters; von der Terrasse aus hat man eine wunderbare Aussicht auf das Tal.“ Tief in den Boden eingelassene Stützpfeiler sorgen in der Flusslandschaft für zusätzliche strukturelle Stabilität.
„Die Form ist weich und stark zugleich, sie wölbt sich dem Boden entgegen und geht in ein Freilufttheater über, das sich seinerseits in die Parkanlage einschmiegt“, so Kessanti. „Seine Energie schöpft das Grand Théâtre de Rabat aus der Dynamik der Flusslandschaft, und diese Dynamik wird wiederum in der Parkanlage aufgegriffen, die das Gebäude sowie das Amphitheater umschließt.“
Entgegen herkömmlichen Vorstellungen von Theatersälen als dunkle, kastenförmige Räumen spielte der Lichteinfall bei der Gebäudeplanung eine entscheidende Rolle. „Voutenleuchten schlängeln sich an der wellenförmigen Fassade entlang, während Oberlichter und großzügig ausgelegte gläserne Eingangsbereiche dafür sorgen, dass das Gebäude quasi von innen heraus leuchtet“, so Kessanti. Im Hauptsaal selbst bringen Scheinwerfer die facettierten goldenen Wände zur Geltung; im Außenbereich geleiten dezent ausgeleuchtete Treppenaufgänge und Balustraden den Besucher durch das Amphitheater.
Hadid war berühmt für ambitiöse Baupläne, deren praktische Umsetzung die Bauingenieure oft vor erhebliche Herausforderungen stellte. In dieser Tradition steht auch das Grand Théâtre de Rabat, dessen einzigartige Formgebung und vielschichtigen Anforderungen ohne 3D-Modellierung kaum zu realisieren gewesen wären. „Ganz am Anfang arbeiteten wir zunächst im herkömmlichen 2D-Format“, erinnert sich Kessanti. „Im Zuge der Entwurfsplanung im Jahr 2014 setzte sich bei unserem Projektpartner vor Ort, dem Architekturbüro Omar Alaoui Architectes, jedoch die Erkenntnis durch, dass die komplexe Geometrie der von ZHA erstellten Baupläne eine vertiefte Koordinierung in 3D erforderlich machten.“
„Die Entwicklung eines BIM-Workflows mit Fertigstellungsgrad 200 (Entwurfsplanung; entspricht in etwa BIM-Fähigkeitsstufe 1) in Autodesk Revit zur Erstellung sämtlicher erforderlichen Unterlagen musste schnell gehen“, berichtet Kessanti weiter. „Allerdings standen wir dann vor dem Problem, dass der Einsatz von BIM damals im marokkanischen Bauwesen so gut wie unbekannt war und die dortigen Subunternehmer nicht die entsprechenden Kenntnisse und Kompetenzen mitbrachten.“
Also richtete ZHA eigens eine BIM-Gruppe ein, die im Zuge von Workshops gemeinsam die Geometrie für das Gebäude erarbeitete. Zur Extrahierung der Daten aus 3D-Modellierungtools wie Autodesk Maya und zur Zuordnung technischer Leistungsvorgaben zu den 3D-Komponenten wurde ein Plug-in für Revit namens ZHA BIM entwickelt.
„Mit diesem Verfahren konnten wir den Entwurf vollständig koordinieren und durchrationalisieren, die komplexen doppelt gekrümmten Flächen in Facetten auflösen und mit kostengünstigeren Werkstoffen arbeiten“, erläutert Harry Ibbs, der bei ZHA die BIM-Abteilung leitet. „Die Software ermöglichte uns, ein wunderschönes architektonisches Werk so umzusetzen, dass es auch aus Sicht der beteiligten Bauunternehmer ein Traumprojekt wurde.“
Berater und Bauunternehmer vor Ort schufen in BIM vollständig koordinierte Modelle mit Konflikterkennung, wie Kessanti erzählt. „Die Modelle waren erforderlich, um sowohl dem Bauherrn als auch den Subunternehmern Kosten zu sparen“, fügt er hinzu. „Dadurch konnten wir sowohl die strukturelle Gestaltung als auch die Verlegung aller Versorgungsleitungen präzise planen, ohne unnötige Löcher in die Betonwände und -böden zu bohren.“
Hadids unerwarteter Tod im Jahr 2016 verleiht ihren postumen Projekten zusätzliche Prägnanz. Wenn Ende dieses Jahres im Grand Théâtre de Rabat die Bühnenbeleuchtung angeht, wird die zeitgenössische Architektur um ein weiteres Meisterwerk einer ihrer einflussreichsten Protagonistinnen bereichert.